Steile Thesen: Über eine “Studie” zur Ost-Berichterstattung von ARD, ZDF und Deutschlandfunk

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Vorhin spült mir Facebook eine Studie in die Timeline, die die Berichterstattung von ARD und ZDF über Ostdeutschland kritisiert.

Bild.de titelte dazu reißerisch am 30.9.2023: "Neue Studie deckt auf - So einseitig berichten ARD und ZDF über den Osten".

Wörtlich schreibt Bild.de:

"Die Wiedervereinigung ist am Dienstag genau 33 Jahre her, doch in den öffentlich-rechtlichen Programmen gibt es offenbar immer noch deutliche Unterschiede zwischen Ost und West. Eine neue Studie des Forschungsinstituts 'Media Tenor' kommt jetzt zu einem heftigen Ergebnis: 'Ostdeutschland bleibt bei ARD, ZDF und Deutschlandfunk auch 30 Jahre nach dem Fall der Mauer eine Region, vor der gewarnt wird.'"

Oha, denkt der interessierte Medienbeobachter, das schauen wir uns mal näher an.

Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Es handelt sich dabei um mächtig steile Thesen, die auf ausgesprochen dünner Datenlage basieren. Man könnte auch sagen: Die Ergebnisse sind vor allem reißerisch und Schlagzeilen-orientiert interpretiert.

Seriös geht anders.

Was ist die Quelle?

Aber der Reihe nach, beginnen wir mit der Quelle: Genannt wird im Bild-Bericht das Institut "Media Tenor" und verlinkt auf eine Webseite Informationsqualitaet.com.

Kleine Information am Rande: Wer die Geschichte kennt (oder die Suchmaschine Google benutzen kann) weiß, dass Media Tenor und die Öffentlich-Rechtlichen in Deutschland nicht das beste Verhältnis haben. Im Gegenteil: Sowohl ARD wie auch ZDF haben über die Jahre immer wieder scharfe Kritik an Media Tenor geübt, sicherlich auch, weil das Institut die Öffentlich-Rechtlichen immer wieder scharf kritisiert hat.

Hauptkritik der Rundfunkanstalten an Media Tenor: Man mache nicht transparent, wie man zu den Ergebnissen kommt. Auch andere Medien haben sehr kritische Fragen bezüglich der Arbeit des Instituts geäußert.

Nun gut, deswegen könnte die Studie ja trotzdem einen wahren Kern enthalten.

Wie ist die Methode?

Schauen wir uns also mal die hinterlegte Methodik genauer an, mit der man das Ergebnis "gemessen" hat.

Und da fängt es aus meiner Sicht an, wirklich problematisch zu werden: Zur eigentlichen Methode finden sich auch auf der von Bild verlinkten Seite Informationsqualitaet.com nur ganz wenige Informationen.

Wörtlich heißt es da:

"Basis: 6.297 Berichte über Ostdeutschland in ARD Tagesschau (von insgesamt 339.249 Berichten), 7.801 in ZDF heute (von insgesamt 329.885 Berichten), 1.431 in DLF 7-Uhr-Nachrichten (von insgesamt 105.856 Berichten)"

Ähm, kurze Nachfrage: Sind auch Berichte über Westdeutschland ausgewertet worden? Um wirklich einen Vergleich zu ermöglichen?

Die Aufbereitung der "Ergebnisse" wirft weitere Fragen auf: Da ist ein kurzer, launiger Text zu finden und drei Charts (s. Screenshot) sind eingebunden, die bestimmte Themenbereiche nennen. Dort ist jeweils in Farben abgebildet, bei welchen Themen die Berichterstattung als negativ (rot), neutral (gelb) oder positiv (grün) bewertet wurde.

Screenshot von Informationsqualitaet.com

Schaut man sich das an, könnte man auch zu dem Schluss kommen: Mensch, da ist aber richtig viel gelb ("neutral") in der Tabelle, zum Beispiel beim Themengebiet Parteipolitik - wo es auch bei allen drei Programmen genauso viel grün wie rot gibt. Gar nicht mal so schlecht!

Aber ey, das könnte ja die Schlagzeilen-trächtige Interpretationsmöglichkeit stören.

Es tauchen weitere Fragen zur Methodik auf: Sind Berichte darüber, wenn Parteien zum Beispiel über Sicherheitspolitik gestritten haben, in die eine oder die andere Kategorie gerutscht?

Und wer hat eigentlich diese Bewertungen vorgenommen? Auch dazu gibt es keine Angaben.

Irritierende Ergebnisse

Bild zitiert zum Beispiel indirekt dieses Ergebnis:

"Insbesondere das Thema Sicherheit/Kriminalität wird in der Berichterstattung über Ostdeutschland demnach vorwiegend negativ bewertet."

Oder dieses:

"Auch über die Themen Unfälle/Katastrophen und Flüchtlinge/Asyl wird negativ oder ohne Wertung, aber nur selten positiv berichtet."

Zitat aus dem kurzen Text der ursprünglichen Veröffentlichung:

"Was sehen die Deutschen, wenn sie sich über ARD, DLF und ZDF einen Einblick darüber verschaffen wollen, ob ich das Leben in den fünf «neuen» Bundesländern zum Guten oder Schlechten entwickelt hat? Sie bekommen die vermeintliche Realität zwischen Greifswald und Erzgebirge vor allem als Reigen von Gefahren für die Sicherheit, Parteienstreit, Unfälle und Katastrophen vermittelt."

Echt jetzt?!

Nachrichtensendungen berichten also überwiegend "negativ" über die Themen "Sicherheit/Kriminalität" und "Unfälle/Katastrophen", was für eine Neuigkeit!

Könnte das vielleicht einfach daran liegen, dass die Themen per se eher "negativ" behaftet sind?

Und könnten die Tatsachen, dass Nachrichtensendungen in aller erster Linie über Ereignisse und aktuelle Entwicklungen berichten und Vorfälle und Ereignisse wie "Unfälle", "Katastrophen" und "Kriminalität" nun mal gewöhnlich nicht positiv sind, dabei auch eine Rolle spielen?

Was ist "negativ"?

Das wirft die nächste Frage auf: Gibt es eigentlich einen Vergleich in der "Studie", ob Berichte über die gleichen Thema in Westdeutschland "positiver" waren?

Auf der Studien-Seite ist dazu nichts zu finden.

Apropos: Wie genau ist "negativ" in der Untersuchung eigentlich definiert?

Auch dazu gibt es keine Angaben.

Und was ist eigentlich mit den ganzen anderen Formaten in ARD und ZDF, etwa Politik-, Kultur- und Boulevard-Magazinen, die von (zum Teil in Ostdeutschland angesiedelten ARD-Anstalten!) ins Hauptprogramm des Ersten geliefert werden?

Überhaupt: Wo bitte sind die dritten Programme ausgewertet, zum Beispiel das des MDR (kommt übrigens aus Ostdeutschland und gehört auch zur ARD!), der ja inzwischen auch in Teilen des Westens zu empfangen sein soll (Vorsicht, Ironie)?

Ey Leute, echt jetzt, das alles erscheint hochgradig unseriös und beliebig –und im Sinne der ursprünglich aufgestellten These irgendwie zusammengereimt.

Wer ist der Absender?

Ich will jetzt gar nicht allzu tief in diese Seite Informationsqualitaet.de eintauchen, aber…

Da stehen noch einige spannende Thesen, die auch durchaus einen wahrer Kern haben könnten, bei denen die Datenaufbereitung und -ermittlung aber auch immer wieder Fragen aufwerfen.

Denn die von Bild großgezogene "Studie" ist nur Teil eines Beitrages mit dem Titel "Rundfunkrat-Brief 1 / Ostdeutschland" (was ich tatsächlich einen sehr spannenden Ansatz finde, wenn es seriös gemacht wäre!).

Der "Brief" wertet zum Beispiel aus, dass die Forschungslandschaft Ostdeutschlands zu selten im ARD-/ZDF-Programm auftaucht.

Und stellt fest, dass "Fragen zu DDR-Vergangenheit und Deutscher Einheit (...) für Heute, DLF und Tagesschau unterhalb der Wahrnehmungsschwelle" bleiben.

Beides wäre mal eine seriöse Untersuchung wert.

Auch hier sei wieder die Frage erlaubt: Ist es in dem Fall wirklich zielführend, geschweige denn glaubwürdig, nur Nachrichtensendungen auszuwerten und das übrige Programm außen vorzulassen?

Meine Antwort: nein!

Berichte über Buchmesse Leipzig

Richtig skurril wird es dann beim Punkt "Berichterstattung über Veranstaltungen/Messen/Literatur, 2012–2023".

Da ist dann zu lesen:

"Leuchttürme wie die Buchmesse in Leipzig können ihre Strahlkraft kaum entfalten."

Als Quelle für diese Aussage werden drei Charts eingeblendet, die suggerieren, dass zum Beispiel Deutschlandfunk in den Jahren 2020 bis 2023 überhaupt nicht über die Buchmesse Leipzig berichtet haben soll.

Aus der Beschreibung der Daten in kleiner Schrift unter dem Beitrag wird deutlich: Grundlage für diese Bewertung waren insgesamt 38 der 7-Uhr-Nachrichten-Sendungen des DLF.

Also, was heutzutage alles so als "Studie" durchgeht...

Vielleicht hätten sich die Autorinnen und -Autoren besser mal auf den Weg zur Buchmesse Leipzig gemacht, um die sich vor Ort die Angebote der drei "untersuchten" Anstalten ARD (inklusive MDR!), ZDF und Deutschlandfunk genauer anzuschauen und die eine oder andere Live-Ausstrahlung oder Aufzeichnung für die unterschiedlichsten ÖRR-Programme mit anzusehen bzw. -hören.

(Pssst, gleich noch dazu der Hinweis: Es waren noch weitere öffentlich-rechtliche Programme da, zum Beispiel 3Sat!)

Wilde Thesen

Nein, man versteift sich lieber auf die eigene krude These, die es zu beweisen gilt - die Öffentlich-Rechtlichen seien angeblich nicht fair im Umgang mit dem Osten, die Buchmesse komme in der Berichterstattung zu kurz.

Wörtlich steht da:

"In der Tagesschau wurde beiden Anbietern vergleichbarer Raum geboten – warum nicht auch von ZDF Heute? Verweise auf Sondersendungen sind wenig hilfreich, wenn es darum geht, dem Auftrag «Vorbild» gerecht zu werden. Dieses Ziel ist aus dem einfachen Grund festgeschrieben worden, um nicht bereits «Bekehrten» eine weitere Huldigungsmesse zu liefern, sondern neue Zielgruppen an relevante Themen heranzuführen. Dass Lesen zwingend zu diesen Themen gehört, mag für TV-Schaffende ungewohnt sein – aber es ändert nichts an der Relevanz der Zielvorgabe."

Sorry, aber das verfestigt weiter den Eindruck, dass hier eine recht dünne Datenlage im Sinne der gewünschten Ergebnisse herangezogen und wild "interpretiert" worden ist.

Ehrlich: Ich habe wirklich nichts gegen Kritik an der Arbeit der Öffentlich-Rechtlichen und man könnte dort sicher vieles besser machen. Aber diese "Studie" hier funktioniert vor allem nach dem (anti-)journalistischen Motto:

"Ich lass mir doch meine Geschichte nicht durch Recherche kaputt machen."

P.S.: Der Plan scheint aufgegangen zu sein: Außer Bild.de (wo ja "Klicks" neuerdings zur alleinigen Währung erklärt worden sind) berichten vor allem rechtskonservative bis anti-demokratische Kanäle im Netz über das Thema. Mission accomplished, Aufregung und Ablehnung der Öffentlich-Rechtlichen bestärkt und maximale Aufmerksamkeit für die eigenen Aktivitäten erreicht.

Transparenzhinweis: Ich habe in den Jahren 2020 und 2021 für die Medienkompetenzredaktion des MDR gearbeitet. Dort habe ich u.a. diesen Beitrag zur Berichterstattung über Ostdeutschland gemacht.

Hinweis 4.10.2023, 6.54 Uhr: Ich habe den ursprünglich am 3.10.2023 um 23.27 Uhr publizierten Beitrag gerade noch mal leicht im Sinne der Verständlichkeit editiert. owy 

2 Kommentare
  • Sebastian H.
    Oktober 4, 2023

    Funfact zur Nicht-Berücksichtigung der Buchmesse in den Jahren 2020 bis 2022. Da sie wegen Corona abgesagt wurde, ist es jetzt nicht so verwunderlich, dass die Berichte nicht da sind.

  • Manfred Holzmann
    Oktober 30, 2023

    Mag die Datenlage dünn sein, der Gesamt-Tenor (sic!) wird mindestens für jeden Mediennutzer in Ostdeutschland und selbst für mich Wessi recht zwanglos mit der eigenen Nutzererfahrung zusammengehen. Ihre Kritik hier ist mir viel zu flappsig ("Oha", "Ähm", ""Psst" usw usw) - sowas ist, zumal ihres vermutbaren Bias, kaum hilfreich.

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