“Sie werden immer gegen das Beteiligungsparadoxon arbeiten”
Dr. Christopher M. Brinkmann über Bürgerbeteiligung

"Mehr Bürgerbeteiligung" - das ist ein Slogan, der in den vergangenen Jahren immer wieder zu hören ist. Tatsächlich aber sind die Beteiligtenzahlen häufig überschaubar, wenn Kommunen oder Institutionen entsprechende Angebote machen. Woran liegt das? Und was muss passieren, damit mehr Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeiten nutzen, die eigene Umwelt mitzugestalten?

Dr. Christopher M. Brinkmann hat seine Doktorarbeit zu dem Thema geschrieben. Titel: "Crossmediales Wissensmanagement auf kommunaler Ebene. Bürgerbeteiligung, Netzwerke, Kommunikation". Ein Interview.

"Wenn wir die Engagement-Netzwerke, die wir in einer Kommune haben, für die Beteiligung an anderen kommunalen Projekten nutzen, kann viel Potential mobilisiert werden."

FLURFUNK: Bürgerbeteiligung liegt als Begriff seit ein paar Jahren im Trend. Aber lassen sich Bürgerinnen und Bürger heute tatsächlich zu mehr Beteiligung motivieren? 

Dr. Christopher M. Brinkmann

Christopher M. Brinkmann: Diese Chance sehe ich, ja. Dazu braucht es aber zunächst einen anderen Ansatz. Auch wenn Bürgerbeteiligung bereits mehrere Jahre diskutiert wird, gelten häufig noch alte Definitionen. In Verwaltungen und vielen Stadträten wird Bürgerbeteiligung allgemein mit politischer Partizipation in Verbindung gebracht. Die Leute sollen wählen gehen, zur Einwohnerversammlung kommen und sich im Amtsblatt über die vergangene Stadtratssitzung informieren. Das Beteiligungsverständnis der Menschen ist aber häufig ganz anders. Für die Personen, mit denen ich bisher in meiner Forschung gesprochen habe, zählt bereits ein Ehrenamt zu ihrer Bürgerbeteiligung. Sie setzen sich im Verein, einer Bürgerstiftung oder einer lokalen Initiative für ihre Kommune ein. Diese Menschen sind aktiv und wollen mitgestalten – nur eben nicht in den standardisierten Formaten. Wenn wir die Engagement-Netzwerke, die wir in einer Kommune haben, für die Beteiligung an anderen kommunalen Projekten nutzen, dann kann aus meiner Sicht viel Potential mobilisiert werden.

FLURFUNK: Beispiel Stuttgart21: Da lagen die Baupläne lange Jahre aus, bevor die Baustelle und damit die Proteste begannen… haben Verwaltungen überhaupt eine Chance, bei heiklen Bauvorhaben die Leute vorher „abzuholen“?
Brinkmann: Ja - mit offener und frühzeitiger Kommunikation. Sie werden allerdings immer gegen das Beteiligungsparadoxon arbeiten. Mit voranschreitendem Planungsstand sinkt die Möglichkeit der Einflussnahme von Bürgerinnen und Bürgern. Gleichzeitig steigt im Zeitverlauf allerdings die Wahrnehmung des Vorhabens in der Öffentlichkeit und damit der Wunsch nach Beteiligung. Häufig ist es leider so, dass die Betroffenen erst merken, was ein Vorhaben für sie bedeutet, wenn es konkret wird und es zu spät ist. Dann setzt vielfach das Sankt-Florian-Prinzip ein – die Inakzeptanz und der Protest bei als negativ wahrgenommenen Veränderungen im eigenen Lebensumfeld. Ein Beispiel: Das Ausbauen erneuerbarer Energien ist in der breiten Bevölkerung akzeptiert – trotzdem möchten nur wenige Menschen ein Windrad in der Nähe ihres Wohnortes haben. Bei Großprojekten müssen wir zudem den Protesttourismus mitdenken. In den Medien präsenter Protest wird mitunter von Aktivistengruppen gezielt inszeniert. In der Forschung sprechen wir auch von performativem Protest oder Aktivismus. Dieser macht es schwer, zu bewerten, was die Bürgerinnen und Bürger vor Ort wollen und welche Interessen von auswärtigen Protestteilnehmenden in die Region getragen wurden.

"Bürgerbeteiligung verläuft in Kommunen zu häufig in abgeschlossenen Projekten."

FLURFUNK: Ist Bürgerbeteiligung oft nicht auch nur Alibi, um die Planungen von Politik und Verwaltung durchzusetzen?
Brinkmann: Das kommt darauf an. Allgemein ist Bürgerbeteiligung im Sinne von politischer Partizipation in formelle und informelle Verfahren unterteilt. Bei den formellen Verfahren, wie den Bauleitplanungen, haben Verwaltung und Politik keine Wahl. Sie sind durch das Gesetz bei der städtebaulichen Entwicklung zur Öffentlichkeitsbeteiligung verpflichtet. Die informellen Verfahren können aus meiner Sicht eher falsch angewendet werden und nur eine Scheinbeteiligung bieten. Bürgerinnen und Bürger sollen dann mit ausgewählten Informationen manipuliert, lediglich informiert oder angehört werden. In meinem Verständnis ist das aber keine Beteiligung oder maximal eine Vorstufe davon. Bürgerbeteiligung ist gegebenen, wenn Verwaltung, Politik sowie Bürgerinnen und Bürger an einem gemeinsamen Projekt zusammenarbeiten und Aufgaben auf verschiedene Beteiligte verteilt wurden.

FLURFUNK: Gibt es Beispiele für richtig gut gemachte und gelungene Bürgerbeteiligung?
Brinkmann: Den einen großen Best Practice-Fall, das Musterstück der Bürgerbeteiligung, kann ich nicht benennen. Ich sehe, dass es in vielen Kommunen über die Jahre gute und gelungene Verfahren gab. Außerdem lernen die in der Bürgerbeteiligung aktiven Personen jeden Tag dazu und passen dabei ihre Standards für gute und gelungene Beteiligung an. Worauf ich allerdings immer wieder hinweise, ist Baden-Württemberg. Es scheint so, als hätte Stuttgart 21 hier für einen Umdenken gesorgt. Nach den Protesten 2010 wurden im Land viele Studien zum Thema Bürgerbeteiligung gemacht, Beteiligungsportale aufgebaut und eine Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung eingesetzt.

FLURFUNK: Was muss eine Kommune denn richtig machen, um viele Bürgerinnen und Bürger zum Mitmachen zu bewegen?
Brinkmann: Sie muss beachten, wen sie bereits für die Beteiligung erreicht und welche Menschen sie noch ansprechen möchte. Wir sehen immer wieder, dass vor allem gut gebildete Personen, die bereits vor Ort vernetzt sind, aktiv werden. Andere Gruppen, wie Kinder und Jugendliche, Senioren oder Alleinerziehende sind hingegen leider in der Bürgerbeteiligung noch nicht genügend repräsentiert. Doch auch Ideen, Erfahrungen und Meinungen dieser Personen zählen und können für die Entwicklung vor Ort wertvoll sein. Bürgerbeteiligung muss daher inklusiv gedacht werden. Die angebotenen Verfahren sollten auch für Personen mit wenig Geld, einem Handicap oder anderen Einschränkungen offenstehen.

"Wissen und Erfahrungen bleiben in der Zeit außerhalb der Verfahren meist ungenutzt."

FLURFUNK: Was sind die häufigsten Fehler, die Verwaltungen machen?
Brinkmann: Fehler ist in dem Zusammenhang das falsche Wort. Vielmehr kommt es zu Problemen, da nicht ausreichend mit den Bürgerinnen und Bürgern gesprochen wird. Bürgerbeteiligung verläuft in Kommunen zu häufig in abgeschlossenen Projekten. Ein Verfahren ist beendet, die Zeit vergeht, ein neues Verfahren beginnt. Jedes Mal müssen die Bürgerinnen und Bürger aufs Neue angesprochen werden. Ihr Wissen und ihre Erfahrungen bleiben in der Zeit außerhalb der Verfahren meist ungenutzt. Zielführender wäre aus meiner Sicht, wenn in einer Kommune die Kultur der Beteiligung grundsätzlich gestärkt würde. Für die Bewohner und Bewohnerinnen eines Dorfes oder einer Stadt würde in diesem Umfeld das lokale Engagement zum Alltag gehören. Durch eine crossmediale, medienübergreifende Kommunikation könnte die Kommune zudem über Orte und Möglichkeiten zur Beteiligung informieren. Das Wissen der Bürgerinnen und Bürger aufzugreifen und für die regionale Entwicklung zu nutzen wird durch den stetigen Kontakt aus meiner Sicht einfacher.

FLURFUNK: Welche Rolle können die sozialen Netzwerke und das Internet dabei spielen?
Brinkmann: Online bieten sich neue Kommunikationsräume, die besetzt werden sollten. Gerade wenn es um schnelle Informationen zu Projekten und Entscheidungen in der Kommune geht, schauen Bürgerinnen und Bürger heute im Internet nach. Bietet die Kommune diese Informationen nicht, so werden private Anbieter das Interesse decken. Die Kommune hat dann allerdings keinen Einfluss auf diese Seiten, womit ihr die Deutungshoheit für die verbreiten Inhalte verloren geht. In meiner Arbeit habe ich zudem immer wieder gesehen: Bürgerbeteiligung braucht Orte. Dies können physische Plätze, wie Vereinsheime, oder Veranstaltungen, auf denen sich Bürgerinnen und Bürger treffen, sein. Über die Sozialen Netzwerke stehen vielen Menschen heute täglich miteinander im Kontakt. Die Medien bilden damit neue, digitale Orte, um Ideen auszutauschen und mit anderen Personen aktiv zu werden.

FLURFUNK: Vielen Dank für das Interview.

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