Fühlen Sie sich manchmal beobachtet? Etwa bei Online-Käufen, wenn Sie durch Facebook scrollen, wenn Sie Netflix-Serien anschauen oder in den Supermarkt gehen? Tun Sie nicht? Sollten Sie aber, denn an dieser Stelle wäre ein bisschen Paranoia ausnahmsweise einmal angebracht.
Wie vielen Cookies oder anderen Tracking-Verfahren haben Sie heute schon zugestimmt? Wie viele AGBs und Datenschutzrichtlinien haben Sie in Ihrem Leben schon weggeklickt, ohne sie gelesen zu haben? In einer Zeit, in der wir als Smartphone-Besitzer quasi 24/7 online sind, sollten wir eigentlich immer sensibler werden, was unsere freiwilligen Datenspenden betrifft. Doch das Gegenteil scheint der Fall zu sein.
Schlimmer noch: durch sogenannte Smart Speaker holen wir uns die neueste Überwachungstechnik sogar freiwillig nach Hause und überschreiten eine weitere Grenze zur Abschaffung unserer eigenen Privatsphäre. Seien es Cortana, Siri, Alexa oder Google Assistent, sie alle zeichnen persönliche Gespräche auf. Mitarbeiter*innen von Microsoft, Apple, Amazon und Google tippen sie ab – zumindest stellenweise, um die entsprechende Spracherkennungssoftware zu optimieren.
Überwachungskapitalismus
Dass dabei auch persönliche Daten ausgewertet werden, braucht ja nicht mehr erwähnt zu werden. Schließlich ist das zu einem der wichtigsten Wirtschaftszweige im „Überwachungskapitalismus“ geworden, wie die Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff unser Zeitalter treffend bezeichnet hat. Amazon geht bei dieser Entwicklung mit Siebenmeilen-Stiefeln voran und ist Vorbild für zahlreiche Konzerne.
Seit den Gründungstagen von Amazon werden Nutzerdaten aufgezeichnet, um den Kunden personalisierte Angebote vorzuschlagen. Das Ziel dabei ist es, möglichst effizient Werbemaßnahmen zu verkaufen und die sogenannte Customer Experience zu verbessern. Auf längere Sicht scheint Amazon jedoch das Kaufverhalten seiner Kunden, sowie Trendbewegungen gänzlich vorhersehen und beeinflussen zu wollen.
Amazon war stets Vorreiter bei der Analyse von Nutzerverhalten seiner Kundinnen und Händler. Der Tech-Riese bedient mittlerweile jede Position eigener Wertschöpfungsketten und zerstört damit systematisch seine Konkurrenten.
Jeff Bezos bezeichnete Amazon daher selbst auch als das „Gazellen-Projekt“. Die kranken und schwachen Tiere müssen demzufolge als erstes dran glauben. Dementsprechend hieß seine erste Website auch Relentless.com, was soviel wie unbarmherzig oder gnadenlos bedeutet. Die URL leitet übrigens auch heute noch auf Amazon weiter.
Das Amazon-Imperium
Wie vielfältig die Tochterfirmen von Amazon mittlerweile sind, zeigt wie umfassend ihre Marktanalysen sein müssen. Unter Prime Video etwa produziert Amazon Filme, Serien, TV-Shows, Dokumentationen, überträgt klassische Sportsendungen ebenso wie E-Sports-Turniere. Gleichzeitig ist es eine eigene Verleihfirma, sowie ein Medienhändler für Musik und Hörbücher. Außerdem besitzt Amazon mit IMDb die größte Filmdatenbank der Welt, ist Versandhändler unzähliger Produkte, eigene Logistik- und Speditionsfirma.
Mittlerweile besitzt Amazon neben eigenen Buchläden (wie absurd) auch mehrere Supermarktketten, handelt mit Medikamenten, Stoffen und Modeartikeln, entwickelt eigene Computerspiele und besitzt das Live-Streaming-Videoportal Twitch. Amazon Web Services (AWS) ist zudem der mit Abstand größte Cloud-Computing-Anbieter der Welt.
Darüber hinaus kaufte Jeff Bezos die Washington Post, startete sein eigenes Weltraumprogramm und baut an einem Satelliten-Netzwerk, das der ganzen Welt Breitband-Internetzugang ermöglichen soll.
Seit der Amazon-Gründung im Jahr 1994 hat der fleischgewordener Lex Luthor seinen Masterplan vom Online-Buchhändler zum Allround-Monopolisten beharrlich verfolgt. Im Buch sah er die erste Ware, die man übers Internet handeln würde. Denn Bücher sind klein, leicht zu verschicken und in einer unüberschaubaren Produktvielfalt vorhanden. Diese Vielfalt abzubilden war erstmals und ausschließlich über Computerdatenbanken möglich. Erst später sollten andere Produkte folgen.
Day-1-Philosophy
Jeff Bezos scheint von Versagensängsten getrieben. So liest sich zumindest seine Day-1-Philosophy, die vor allem aus einem Brief an seine Aktionäre bekannt ist. Er geht davon aus, dass eine Firma immer wie am ersten Tag arbeiten muss, ansonsten falle sie in die Bedeutungslosigkeit zurück.
Tag 2 kennzeichne dagegen den Stillstand der Firma. Vor allem wenn Unternehmen eine gewisse Größe erreicht hätten, neigen sie laut Bezos dazu, träge zu werden und nicht mehr auf die rasanten Entwicklungen am Markt reagieren zu können. Daher solle Amazon sich immer im Tag-1-Modus befinden und sich wie ein Start-Up anfühlen.
Dazu gehöre es vor allem Trends frühzeitig zu erkennen und auf sie zu reagieren. Wenn man sich dagegen wehrt, würde man als Unternehmer gegen die Zukunft kämpfen und damit sein eigenes Ende besiegeln. Wenn man sich aber der Trends annimmt, hätte man Rückenwind und könnte stetig expandieren.
Die ersten Schritte zum Überwachungsstaat
Amazon sehe dementsprechend nur Trends voraus, setze sie aber nicht selbst. Daher habe Amazon seit einigen Jahren vermehrt in Systeme des maschinellen Lernens, in künstlicher Intelligenz und Überwachungstechniken investiert. Der gewaltige Erfolg von Alexa- und Echo-Systemen sei auch nur dadurch zu erklären, dass die Nachfrage bereits vorher bestand, wie Bezos meint. Er zeigte sich selbst erstaunt über den sprunghaften Verkauf der damals noch neuen Technik.
Das Bedürfnis nach nationaler Sicherheit hat Amazon schließlich nicht erfunden. Sie haben nur die passenden Geräte dazu geliefert. Doch wo Amazon mit Alexa auf die Bequemlichkeit seiner Kund*innen reagiert, befördert es mit seiner Überwachungstechnik vor allem ihre globalen Ängste.
Die Kamerasysteme von Ring* (Bitte beachten Sie zu folgenden Abschnitten die Stellungnahme der Firma Ring am Ende des Beitrags, stz,14.12.2020) wurden zum Verkaufsschlager. Dabei sind sie so ziemlich das unheimlichste, was die Technikentwicklung in den letzten Jahren auf den Markt gebracht hat. Dennoch findet das Produkt reißenden Absatz.
Ring produziert Kameras für den Heimbedarf. Angefangen hatte es mit Video-Türklingeln, die auf Bewegungen reagierten und über das Smartphone bedient werden können. Es folgten Kameras, die die eigene Wohnung überwachten und fliegende Überwachungsdrohnen für den Heimbedarf. Alles ist koppelbar mit Alexa und der Neighbors-App, einem eigenen Social-Media-Dienst, der für mehr Sicherheit in der Nachbarschaft sorgen soll und zumindest bisher nur in den USA erhältlich ist.
Zusammenarbeit mit staatlichen Sicherheitsbehörden
Um die Technik vor allem in den USA bekannt zu machen, arbeitete Amazon dort mit ortsansässigen Polizeistationen zusammen, die die Bürger animierten, Amazons Produkte zu kaufen. Im vergangenen Jahr stellte sich heraus, welche Ausmaße das annahm. In kürzester Zeit wurden hunderttausende Kameras in den USA verkauft, die eine flächendeckende Überwachung ganzer Wohnviertel ermöglicht.
Zugriff auf die Kameras hatten nicht nur die Besitzer, sondern auf Nachfrage auch die Polizeibehörden und Amazon-Mitarbeiter*innen sowieso. Nutzerdaten werden über die Geräte natürlich auch gesammelt. Man muss nicht besonders vorausschauend sein, um auf die Idee zu kommen, dass sich dadurch diverse Sicherheitslücken auftun und die Privatsphäre nach und nach verschwindet.
Selbstverständlich haben Angestellte die Technik auch dazu missbraucht, um in die Privaträume der Kund*innen zu sehen, was natürlich zur sofortigen Entlassung führte. Zudem konnten die Kameras wohl auch recht einfach gehackt werden. Den Kriminellen gelang es nicht nur Familien über Wochen hinweg auszuspionieren, sondern auch über die Lautsprecher mit ihnen zu reden, Musik abzuspielen und sie zu beleidigen.
Um den Gruselfaktor noch zu erhöhen, hat Amazon angekündigt, die Ring-Produkte auf Nutzerwünsche mit der neuen Gesichtserkennungssoftware Rekognition kombinieren zu können. Die kann so ziemlich alles erkennen: Gesichter, Gegenstände, Produkte, Gesichtsausdrücke, Handlungen, Schrift – nur mit dunkelhäutigen Gesichtern hat das Programm so seine Probleme. In diesen Fällen ist die Fehlerquote besonders hoch.
Bürgerrechtsorganisationen haben deshalb das Verbot der Software gefordert. Amazon hat daraufhin zumindest den Polizeibehörden die Verwendung von Rekognition für ein Jahr untersagt. Dies geschah vor dem Hintergrund der Black-Lives-Matter-Bewegung. Weitere Verträge zwischen Ring und der Polizei wurden in dieser Zeit aber trotzdem abgeschlossen.
Zudem bestehen bereits Kooperationen zwischen Amazon und dem US-Militär, sowie Einwanderungsbehörden, dem Zoll, dem CIA, dem US-Verteidigungsministerium und privaten Sicherheitsbehörden.
Paranoia? Ja bitte!
Das Unternehmen ist einfach seiner Zeit voraus. Die Mühlen der Gerichtsbarkeit mahlen zu langsam für ein global operierendes Day-1-Unternehmen. Doch nach und nach rückt Amazon weltweit immer wieder in den Fokus der Gerichtsbarkeit, nicht nur was den Datenschutz betrifft.
Auch Verstöße gegen das Kartellrecht und die Behandlung der eigenen Mitarbeiter*innen bringt das Unternehmen weltweit immer wieder in die Medien. Im Umkehrschluss gibt Amazon auch immer mehr Geld für Lobbyarbeit aus.
Schließlich werden mit dem voranschreitenden Zeitalter des „Überwachungskapitalismus“ nicht nur die Kunden durchsichtiger, sondern auch die Unternehmen. Doch Amazon scheint ganz offensichtlich seine Intransparenz bewahren zu wollen, was den Umgang mit Daten, Angestellten und Wettbewerbsstrategien betrifft, und setzt lieber auf Reputationsmanagement. Die EU-Kommission hat daher Ermittlungen eingeleitet.
Andererseits müssen auch die Nutzer*innen vor sich selbst geschützt werden, die bereitwillig smarte Überwachungstechnik kaufen wollen, ohne sich über die gesellschaftlichen Konsequenzen bewusst zu sein. Gleiches gilt für so ziemlich alle Produkte des Internet of Things. Experten warnen immer wieder vor viel zu niedrigen Sicherheitsstandards.
In den USA sollen in Kürze auch die lang angekündigten Lieferdrohnen von Amazon starten dürfen. Laut Patent haben die aber auch schon die Möglichkeit, als Überwachungsdrohne für das eigene Haus eingesetzt zu werden. Im Übrigen haben auch andere Hersteller bereits Smarte Kamerasysteme auf den Markt gebracht. Die Nachfrage scheint also wirklich sehr groß zu sein.
*Ring Deutschland empfand die Darstellung ihrer Firma und ihrer Produkte in diesem Artikel nicht zutreffend. Ein Sprecher von Ring hat deshalb am 11.12.2020 folgendes Statement verfasst, in dem die Sachverhalte ihrer Ansicht entsprechend „zurechtgerückt“ werden:
Statement Ring zum Artikel „Gottes Werk und Alexas Beitrag – mit Amazon zum Überwachungsstaat?“ vom 29.11.2020 auf Flurfunk-Dresden.de
Datensicherheit und Privatsphäre
Die Wahrung der Privatsphäre, des Datenschutzes sowie die uneingeschränkte Kontrolle durch die Nutzer hinsichtlich ihrer eigenen Geräte sowie ihrer persönlichen Daten ist für Ring von grundlegender Bedeutung. Wir arbeiten unermüdlich daran, dieser Verpflichtung nachzukommen. Auch deshalb haben wir als eines der ersten Unternehmen für smarte Heimsicherheit eine zweite Verifizierungsebene (2FA) für alle unsere Kunden verbindlich vorgeschrieben. Zudem haben wir vor kurzem angekündigt, dass wir eine Video-Ende-zu-Ende-Verschlüsselung für unsere Geräte einführen werden. Wir fügen auch weiterhin Funktionen zum Schutz der Privatsphäre der Nutzer und zur Verbesserung der Datensicherheit hinzu, während wir weiter unserer Mission folgen, Nachbarschaften sicherer zu machen.
Die Polizei hat keinen Zugriff auf die Ring-Geräte oder den Live-Stream der Nutzer. Die Polizei hat nur dann Zugang zu Benutzerinformationen oder Videoaufzeichnungen, wenn ein Nutzer diese selbst der Polizei zur Verfügung stellt oder – was ausschließlich für die USA gilt – als Antwort auf eine Video-Anfrage in der Neighbors App mit der Polizei teilt, beziehungsweise das Video selbst in der Neighbors App veröffentlicht. Die Neighbors App ist allerdings nur in den USA verfügbar.
Die Nutzer haben immer die Kontrolle darüber, wer auf ihre Videos zugreifen kann. Mitglieder des Ring-Teams können keine Live-Streams von einem Ring-Gerät aktivieren oder anzeigen. Weitere Informationen hierzu sind auf unserer Datenschutzseite zu finden.
Um unseren Service zu verbessern, sichten und kommentieren wir bestimmte Ring-Videoaufzeichnungen. Diese Aufzeichnungen stammen ausschließlich aus öffentlich freigegebenen Ring-Videos aus der Neighbors-App (gemäß unseren Nutzungsbedingungen) und von einem kleinen Bruchteil der Ring-Nutzer, die ihre ausdrückliche schriftliche Zustimmung gegeben haben, uns den Zugriff auf ihre Videos und deren Nutzung für solche Zwecke zu gestatten (Die Neighbors App ist nur in den USA verfügbar).
Gesichtserkennung findet nicht statt
Ring verwendet keine Gesichtserkennung in seinen Geräten oder Dienstleistungen und wird Gesichtserkennungs-Technologie weder verkaufen noch den Strafverfolgungsbehörden anbieten.
Ring ist nicht Rekognition und das Ring-Team stimmt sich nicht mit Rekognition ab. Sie sind vollständig getrennt und stellen zwei verschiedene Anwendungsbereiche dar.
Systemintegrität
Wir haben den von Ihnen genannten Vorfall Ende 2019 untersucht und haben keine Hinweise darauf gefunden, dass diese Angelegenheit mit einem Eindringen oder einer Kompromittierung des Systems oder Netzwerks von Ring zusammenhing. Es ist nicht ungewöhnlich, dass böswillige Akteure Daten aus Datenschutzverletzungen anderer Unternehmen abgreifen und Listen erstellen, mit denen andere Akteure versuchen können, Zugang zu weiteren Diensten zu erlangen.
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