Eine kritische Auseinandersetzung mit der erfolgreichen chinesischen Social-Media Plattform
von Ludwig Großmann
Facebook, Instagram, WhatsApp, YouTube, Snapchat, Twitter, reddit, Telegram, twitch, Tinder: Soziale Medien bestimmen den Alltag vieler SchülerInnen. Einer repräsentative Umfrage der Krankenkasse DAK zufolge nutzen 85 Prozent der 12 bis 17 Jährigen fast drei Stunden am Tag die sogenannten sozialen Medien.
Immer wieder drängen auch neue Plattformen auf den Markt, teils mehr, teils weniger erfolgreich. Ein sehr erfolgreiches Beispiel der letzten Jahre ist TikTok. Die elementare Funktion der App sind kurze, oftmals mit Musik unterlegte Videoclips. Aber auch Livestreams und Direktnachrichten sind möglich. Eine typische soziale Plattform, besonders beliebt bei Jugendlichen.
TikTok – Eine Erfolgsgeschichte
Die Erfolgsgeschichte der App beginnt, als das chinesische Start-Up ByteDance, dem TikTok gehört, im November 2017 die ebenfalls chinesische Plattform Musical.ly aufkauft. Die beiden Netzwerke ähneln sich sehr in ihren Funktionen, Unterschiede finden sich unter anderem bei der Länge der Videoclips, die bei Musical.ly auf 15 Sekunden beschränkt war. Während TikTok bis dahin nur auf chinesischen und indonesischen Smartphones verbreitet ist, war Musical.ly bereits nach Europa und Amerika vorgedrungen und erfreute sich dort immer größerer Beliebtheit.
Obwohl die Zusammenführung und Namensangleichung der beiden Apps zunächst auf Ablehnung stößt, setzt dies dem Erfolg kein Ende, im Gegenteil: Mittlerweile verzeichnet die Plattform eigenen Angaben zufolge 800 Millionen weltweit aktive NutzerInnen. Zum Vergleich: Instagram liegt bei einer Milliarde monatlich aktiven NutzerInnen. TikTok nutzen in Deutschland laut der Fachzeitschrift AdAge 5,5 Millionen Menschen regelmäßig und verbringen durchschnittlich, so die Zahlen des Fachmagazins Digiday, 50 Minuten täglich mit ihr.
Der Erfolg des neuen sozialen Netzwerkes bescherte auch dem Inhaber ByteDance einen erheblichen Aufschwung. Das Unternehmen hatte im November 2018 einen Wert von 75 Milliarden US-Dollar und gilt als das wertvollste Start-Up weltweit.
Kritik
Mit hohen Nutzerzahlen und typischen Social-Media-Funktionen gehen oftmals auch klassische Probleme und Kritikpunkte sozialer Medien einher. Hatespeech, Shitstorms und Cybermobbing gehören genauso dazu wie die unkontrollierte Verbreitung von Falschinformationen. Kritische Stimmen beleuchten allerdings auch immer wieder andere Aspekte, die nicht nur, aber im Besonderen TikTok betreffen. Zensur und Diskriminierung auf der einen Seiten, Datenschutzbedenken auf der anderen: Das Bundesamt für Verfassungsschutz und der Bundesbeauftragte für Datenschutz bestätigten, dass es sich bei TikTok datenschutzrechtlich gesehen um „eines der gefährlichsten Angebote“ handle.
Moderation und Community-Richtlinien
Wie viele andere soziale Netzwerke auch hat TikTok Regeln für alle hochgeladenen Inhalte festgelegt. Diese sogenannten Moderationsregeln sind in den Community-Richtlinien festgeschrieben. Auf Basis dieser Regeln ordnen die sogenannten ModeratorInnen, MitarbeiterInnen von TikTok, bereits hochgeladene Beiträge verschiedenen Sichtbarkeitsstufen zu. Die Rede ist von Löschung von Inhalten, regionale Einschränkungen oder aber auch Erweiterungen der Reichweite aus Marketinggründen. Anhand dieser Einteilung wird die Verbreitung der Inhalte durch den Algorithmus bestimmt.
Sprich: alle auf TikTok hochgeladenen und verbreiteten Beiträge werden durch ByteDance kontrolliert, eingeschränkt oder zensiert. Das Unternehmen hat die Macht darüber, welche Inhalte auf seiner Plattform vorrangig sichtbar sein sollen und welche Inhalte nicht in das gewünschte Bild TikToks passen. Offiziell dient die Klassifizierung der Inhalte dazu, die Verbreitung von Hassrede, Falschinformationen, Gewaltandrohung, Mobbing, sexuellen Handlungen, Suizid, Selbstverletzungen oder anderen gefährlicher Handlungen, Straftaten und gefährlichen Organisationen und Personen einzudämmen, zu lesen in TikToks Community-Richtlinien:
„Unsere Community-Richtlinien spiegeln unsere Werte wider und definieren einen einheitlichen Verhaltenskodex für Nutzer*innen unserer Plattform. Diese Richtlinien gestatten es unserer Community zudem, eine sichere, gemeinsame Plattform zu bewahren.“ (Januar 2020)
Diskriminierung
Doch wie weit gehen die Eingriffe tatsächlich? Im vergangenen Jahr berichtete netzpolitik.org, eine deutschsprachige Nachrichten-Website zu digitalen Freiheitsrechten und anderen netzpolitischen Themen, dass TikTok die Moderatoren angewiesen habe, eine Liste mit „besonderen NutzerInnen“ zu erstellen und die Beiträge dieser NutzerInnen in ihrer Reichweite maßgeblich einzuschränken – unabhängig von deren Inhalt. Die ModeratorInnen sollten demnach innerhalb von durchschnittlich 30 Sekunden entscheiden, ob in einem Video zum Beispiel ein "entstelltes Gesicht", "Autismus" oder "Downsyndrom" zu sehen ist. Aber auch einfach „dicke“ Menschen standen auf der Liste von „besonderen NutzerInnen“. TikTok bestätigte die Liste und räumte aufgrund der Kritik verschiedener Verbände und Einzelpersonen Fehler ein. Ziel der Maßnahmen sei es gewesen, die ausgewählten Nutzer vor Mobbing zu schützen.
Das Beispiel verdeutlicht, wie ByteDance Einfluss auf die Inhalte der Plattform nimmt. TikTok soll unterhalten, lustige Videoclips von fröhlichen Menschen zeigen, gute Laune ausstrahlen. Es entsteht die Befürchtung, dass Inhalte, die dieses Bild nicht erfüllen, nicht zugelassen werden. Was die gute Laune verdirbt, hängt von der subjektiven Einschätzung der ModeratorInnen ab. Es soll aber noch mehr Inhalte geben, die TikTok systematisch zu unterdrücken versucht: So liegen dem britischen Guardian Moderationsregeln vor, die positive Inhalte im Bezug auf Homosexualität einschränken sollen. Auch Nacktheit und Alkoholkonsum seien demnach unerwünscht, selbst dort, wo das nicht gesetzlich verboten ist.
Selbstverständlich kann ByteDance selbst entscheiden, welche Inhalte und Personen auf der eigenen Plattform zu sehen sind. Und sicherlich gehören der Jugendschutz und der damit einhergehende Umgang mit Alkoholkonsum und Nacktheit zu den Aufgaben der Plattform. Die Ausgrenzung oder Einschränkung einzelner Nutzer aufgrund ihrer Sexualität, ihres Aussehens oder einer Behinderung muss aber in einem anderen Licht betrachtet werden.
Zensur
Zu diesem Punkt passt auch der immer wieder erhobene Verdacht, TikTok würde auch politische Inhalte zensieren. ByteDance bestreitet jegliche Vorwürfe in dieser Richtung.
Die vom Guardian veröffentlichten Moderationsregeln legen aber dar, dass auch länderspezifische Einschränkungen für die TikTok-Inhalte gelten. In der türkischen Version der App seien demnach Aussagen zur kurdischen Separationsbewegung und Kritik an einer Liste türkischer Politiker, darunter Staatspräsident Erdoğan, zu sperren.
Bei gezielter Suche fällt auf, dass politische Inhalte generell unterrepräsentiert sind. Auch chinakritische Inhalte sind selten aufzufinden. So treten die Proteste in Hong Kong kaum in Erscheinung, obwohl die App auch dort verfügbar ist. Ein weiterer Fall, der diese Problematik unterstreicht, ereignete sich im November 2019: Die US-amerikanische TikTok-Nutzerin Feroza Aziz, die bereits für provokante Clips bekannt war, veröffentlichte ein Make-Up Tutorial.
Allerdings rückte die Wimpernpflege schnell in den Hintergrund: Aziz nutzte sie als Tarnung, um über die Verfolgung der Uiguren, einer muslimischen Bevölkerungsgruppe in China, zu sprechen. Nach kurzer Einleitung sagte sie in ihrem Video:
“Then you’re going to put [the eyelash curler] down and use your phone to search up what’s happening in China, how they’re getting concentration camps, throwing innocent Muslims in there, separating families from each other, kidnapping them, murdering them, raping them, forcing them to eat pork, forcing them to drink, forcing them to convert.”
„Dann legt ihr [die Wimpernzange] ab und nutzt euer Smartphone um nachzuschauen, was gerade in China passiert, wie sie Konzentrationslager bauen, unschuldige Muslime dort hineinwerfen, Familien voneinander trennen, sie entführen, ermorden, vergewaltigen, sie zwingen, Schweinefleisch zu essen, sie zwingen, zu trinken, sie zwingen, zu konvertieren.“
Über Tage hinweg wurde sie für die Überlistung des „Zensurapparats“ gefeiert, bis TikTok den Zugang zu ihrem Account sperrte und das Video vier Tage später zeitweise von der Plattform nahm. Zu diesem Zeitpunkt war aber bereits eine Debatte darüber entbrannt, welchen Einfluss ByteDance und damit auch China weltweit im Bezug auf Meinungspluralität im Netz tatsächlich hat und haben sollte.
Datenschutz
Datenschutzbedenken sind in der Welt sozialer Plattformen kein neues Phänomen. Die App sammelt verschiedenste Daten ihrer NutzerInnen, aus denen sich umfassende Persönlichkeitsprofile erstellen lassen. Dazu zählen unter anderem sämtliche Kontaktdaten, IP-Adresse, Browserverlauf, technische Daten des Geräts, Inhalte gesendeter Nachrichten und deren Empfänger sowie Informationen zur Nutzung von TikTok, etwa Kommentare und Likes.
Auch der Standort China nimmt eine zentrale Rolle ein. Denn nach chinesischem Gesetz müssen sowohl einheimische als auch ausländische Unternehmen ihre Daten auf chinesischen Servern speichern und mit chinesischen Sicherheitsbehörden zusammenarbeiten, wenn das gefordert wird. Das gilt auch für ByteDance. Besonders problematisch wird dieser Umstand beim Blick auf die chinesischen Datenschutzstandards. China ist ein Überwachungsstaat: Durchschnittlich gibt es 100 Überwachungskameras auf 1000 EinwohnerInnen. Der Staat kann jeden Menschen im Land fast überall im öffentlichen Raum beobachten, sei es über Gesichtserkennung oder anhand der Gangart eines Menschen. Ein System, das sich wohl nicht täuschen lässt.
Gleichzeitig gibt es keine genauen Auskünfte darüber, was mit den Aufzeichnungen der Überwachungskameras oder den gesammelten Daten geschieht, wer sie sieht oder wie lang sie gespeichert werden. Aufgrund der gesetzlichen Lage ist anzunehmen, dass über den Umweg TikTok die chinesischen Behörden auch Zugriff auf die Daten ausländischer Nutzer haben. Auf diesem Wege könnten beispielsweise auch Fotos oder Videos auf den Geräten der Nutzer nach Gesichtern gescannt werden und in die Hand der Behörden gelangen. Für Nutzer ist eine Überprüfung oder Kontrolle dieses Datenflusses unmöglich.
Die chinesischen Behörden sind allerdings nicht die einzigen, die sich ungefragt Zugriff auf die Daten der TikTok Nutzer verschaffen könnten. Ende vergangenen Jahres gelang es SicherheitsforscherInnen von Checkpoint Research, mehrere Sicherheitslücken der TikTok App ausfindig zu machen. Die israelischen ForscherInnen fanden bei ihren Tests einen Weg, um sensible Nutzerdaten wie E-Mail-Adresse, Geburtsdatum oder Zahlungsinformationen über die TikTok-Website und -App abzugreifen. Alle Sicherheitsmechanismen konnten umgangen werden. Mittlerweile gab ByteDance an, sämtliche Sicherheitslücken geschlossen zu haben. Auch wenn sich vermutlich niemand auf diesem Wege Zugriff zu Nutzerdaten verschaffte, ist der Umstand des Bestehens dieser Möglichkeit besorgniserregend.
Fazit
Soziale Netzwerke bestimmen maßgeblich den Alltag von Milliarden Menschen. Die Plattformen haben einen großen Einfluss auf ihre NutzerInnen, sie sind aus dem Leben der Menschen kaum wegzudenken. TikTok hat sich zum Ziel gesetzt, „Kreativität und Freude zu fördern“, so die Community-Richtlinien. Auf der anderen Seite steht vor allem die Fragen: Stehen der datenschutzrechtliche Aspekt, sowie Zensur und Ausgrenzung dem eigenen Ziel nicht eher im Weg? Das muss wohl jede/r NutzerIn für sich selbst entscheiden.
Dieser Text ist zuerst in Ausgabe 03/2020 des Spickzettel, der Schülerzeitung des Romain-Rolland-Gymnasium Dresden, erschienen.
April 16, 2020
1A Recherche, super Analyse.
Danke, ich werden den Artikel meinen hauptsächlich studentischen Mitwohnies weiterempfehlen - mit einem bösen Grinsen und einem Hinweis auf das coole Mastodonnetzwerk.