Vor wenigen Tagen habe ich ein Interview mit Sachsens Kultusminister Christian Piwarz zum Thema Medienbildung an Schulen geführt. Heute liefern Sachsens Tageszeitungen ein Paradebeispiel ihrer Kunst, wie sie dringend an Schulen (und nicht nur dort) thematisiert werden sollte.
Thema: Gewalt an Schulen
Zur Sache: Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Sächsischen Landtag haben am 20.2. (gestern) eine Pressemitteilung zu Gewalt an Schulen herausgegeben. Titel der Mitteilung: "Gewalt an Schulen - ein positives Sozialklima ist die beste Gewaltprävention".
Hintergrund ist eine kleine Anfrage, die die sächsische Landtagsabgeordnete Petra Zais an die Staatsregierung gestellt hat. Die Antworten von der ehemaligen Kultusministerin Brunhild Kurth sowie von Innenminister Roland Wöller finden sich auf den Seiten des Landtags jeweils als PDF (Antwort Kurth, Antwort Wöller).
Im Text der Grünen-Pressemitteilung heißt es:
"Die Zahl der Straftaten an sächsischen Schulen bewegt sich seit Jahren auf hohem Niveau. Immer wieder werden auch Lehrkräfte Opfer von Gewalt, wie zuletzt die Forsa-Umfrage im November 2016 aufzeigte."
Und weiter:
"Im Schuljahr 2016/17 wurden 3.215 Straftaten in sächsischen Schulbereichen erfasst. Im Schuljahr 2013/14 waren es 3.511 Fälle, im Schuljahr 2014/15 3.417 und im Schuljahr 2015/16 3.832 Fälle. Besonders häufig kommt es an Oberschulen zu Straftaten (970 Fälle im Schuljahr 2016/17), erschreckend hoch sind jedoch auch die Fallzahlen an Grundschulen (494 Fälle). Die häufigsten Delikte an Schulen sind Diebstähle (1.482 Fälle im Zeitraum November 2016 bis Dezember 2017), Körperverletzungen (641 Fälle) und Sachbeschädigungen (576 Fälle)."
Im weiteren Verlauf der PM bilanziert die Abgeordnete Zais, dass die Sicherheit der Lehrkräfte mehr Aufmerksamkeit verdiene, dass sie den Umgang mit Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen an Schulen problematisch findet und sellt fest, "dass ein positives Sozialklima die beste Gewaltprävention darstellt".
Soweit, so normal: Kleine Anfrage als normales parlamentarisches Mittel, Pressemitteilung zur Auswertung und Selbstpositionierung der Fachpolitikerin.
Im Schnitt pro Schule 1,8 Straftaten pro Jahr
Nur, wie sind die Zahlen einzuordnen? Die SPD-Bildungspolitikerin Sabine Friedel hat die Medienberichterstattung über das Thema verfolgt und stellt in einer Facebook-Notiz die gleiche Frage.
Sie stellt fest:
"In Sachsen gab es im Schuljahr 2016/17 insgesamt 1.760 Schulen. Im Durchschnitt ereigneten sich also an jeder Schule 1,8 Straftaten pro Schuljahr. Im Schuljahr 2015/16 waren es übrigens 3.832 Straftaten bei 1.753 Schulen und damit 2,2 Straftaten pro Schule und Schuljahr. An Sachsens Schulen lernten im Schuljahr 2016/17 insgesamt 463.773 Schülerinnen und Schüler. 3.215 von ihnen begingen eine Straftat. Unter 1.400 Kindern und Jugendlichen gab es also 10 Kinder und Jugendliche, die eine Straftat begingen. Fünf der zehn Schüler machten sich eines Diebstahls schuldig. Zwei verübten eine Sachbeschädigung. Und drei der insgesamt 10 Straftäter von unseren 1.400 Kindern und Jugendlichen begingen eine Körperverletzung."
Hier bei Facebook nachzulesen: "Alarm - die Zahl der Straftaten sinkt."
Damit wird das Bild schon klarer.
Dramatische Schlagzeilen!
Zahlen aber richtig einzuordnen und zum Beispiel zu wissen, dass vom Schuljahr 13/14 zum Schuljahr 16/17 die Zahl der Schüler um fast 25.000 Schüler angestiegen ist - nein, das hätte vielleicht der Recherche und der Auseinandersetzung mit den Inhalten der Mitteilung bedurft!
Hier ein kurzer Abriss der heutigen (21.2.) Schlagzeilen – die Meldungen basieren wohlgemerkt allesamt auf der Einschätzung der Grünen-Landtagsabgeordneten:
Sächsische Zeitung: "Mehr Gewalttaten an Sachsens Schulen"
DNN: "Straftaten an Schulen auf hohem Niveau" (Übernahme von dpa)
Freie Presse: "Über 3200 Straftaten an Schulen" (ebenfalls dpa-Übernahme)
Morgenpost Sachsen: "Gewalt an Schulen" (nicht online)
BILD Sachsen: „Tausende Anzeigen an Sachsens Schulen" (nicht online)
Man kann den Medienvertretern allerdings tatsächlich im Grunde nichts vorwerfen – liest man sich die Stücke durch, ist die Berichterstattung nach formalen Kriterien durchaus korrekt. Die Zahlen werden grob eingeordnet, als Quelle für weitere Einschätzungen wird die Grüne Landtagsabgeordnete Zais genannt.
Und doch darf man die Frage stellen: Was bleibt eigentlich beim Leser hängen? Im Online-Auftritt der Sächsischen Zeitung etwa vermissen schon die ersten die gute alten Zeiten.
Zitat aus einem Leser-Kommentar:
"Bin ich froh! Ich hab meine Schulzeit in der DDR absolviert. Friedlich und ohne Gewalt. Was heute teilweise schon an den Grundschulen abgeht... Von mir aus können Lehrer ruhig mehr Geld bekommen. Aber das wird auch nicht das Problem lösen."
Gut, das ist eine Einzelmeldung, die aber exemplarisch für eine mögliche Interpretation der Meldung steht. Betrachtet man die Zahlen, kann man den Eindruck gewinnen, dass die Schlagzeilen weit mehr dramatisieren, als die Situation in Wirklichkeit ist.
Und das in Zeiten, in denen gefühlt immer mehr Menschen nur die Schlagzeilen lesen!
Sabine Friedel fasst es in ihrem Beitrag so zusammen:
"Welches Bild entsteht uns dadurch vor Augen? Und ist es das gleiche Bild, wie das, welches die Überschriften 'Straftaten an Schulen gehen zurück' oder 'Zwei Straftaten pro Schuljahr an sächsischen Schulen' oder '0,7 Prozent der sächsischen Schüler haben schon Straftat begangen (99,3 Prozent nicht)' entstehen ließen? Das 'positive Sozialklima' beginnt nicht zuletzt bei uns selbst."
Da hat sie wohl recht. Anfangen können wir ja mit der Vermittlung von Medienkompetenz in Schulen.
Hinweis: Das oben erwähnte Interview mit dem Kultusminister erscheint in der nächsten Ausgabe der Zeitschrift KLASSE, die STAWOWY (FLURFUNK-Betreiber) als Dienstleister im Auftrag des Sächsischen Kultusministeriums erstellt.
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