"In Colmnitz ist die Wehrmacht zurück", "Schon wieder Sachsen! Hakenkreuz-Schock beim Dorffest" und mit "Nazisymbolik beim Dorffest". Seit Montag (30.5.2016) ist Sachsen mal wieder in die bundesweiten Schlagzeilen. Wenn man den überregionalen Medien Glauben schenken mag, bestätigt sich "mal wieder" das Klischee vom braunen Sachsen.
Dass verbotene Symbole bei einem Festumzug im Rahmen eines Dorffests nichts zu suchen haben, darüber muss man sich nicht streiten. Dass so ein Vorfall durch Medien aufgegriffen und thematisiert wird, ist also absolut in Ordnung.
Was allerdings dann einige Medien, die über die Sache in den letzten Tagen berichtet haben, aus dem Vorfall machen – darüber wollen wir hier doch noch mal ein Wort verlieren.
Wie schon am Beispiel mit dem Giftspinnen-Fund letzte Woche aufgezeigt, ist es erschreckend, wie schnell sich manche überregionale "Qualitätsmedien" auf ein in ihren Augen "lukratives" Thema stürzen und dies durch "vielleicht", "hätte", "könnte", "anscheinend" und "offenbar" ordentlich anreichern.
Recherche? Journalistische Tiefe? Abwägung? Brauchen wir nicht, wir haben ja unsere Klischees.
Der Stein des Anstoßes
Am 29.5. berichtete als erstes die Leipziger Internet Zeitung über den Vorfall in Colmnitz. Der Beitrag unter dem Titel "Irritierende Bilder: In Colmnitz ist die Wehrmacht zurück" beruft sich dabei ausschließlich auf den Aussagen des freiberuflichen Fotografen Marcus Fischer, der als Augenzeuge beim Umzug vor Ort war.
Um den Thema noch ein bisschen mehr inhaltlichen Stoff zu geben – schließlich hat man zu dem Zeitpunkt nur die eine Quelle und die paar Fotos – zieht die Leipziger Internet Zeitung ihre eigenen Rückschlüsse auf den möglichen Hintergrund, warum bei besagten Dorffest solch eine Szenerie zu Stande gekommen ist. Denn, so ist dort zu lesen: Die historisch "bekannteste" Persönlichkeit des Ortes ist Horst Böhme, ein ranghoher SS-Oberführer. Das "enthüllt" die L-IZ – vermutlich – auf Basis einer fundierten Wikipedia-Recherche. Als Beleg wird im L-IZ-Beitrag gleich mal auf Wikipedia verlinkt.
Völlig unabhängig davon, ob hinter der Erwähnung dieses historischen "Prominenten" eine politische Absicht steckt oder nicht: Dass es einen Zusammenhang zwischen den auf den Fotos zu sehenden Wehrmachts-Uniformen (samt Sanitäts-Koffer mit dem verbotenen Symbol des Hakenkreuzes) und dem SS-Ahnen des Ortes gibt, ist zu diesem Zeitpunkt pure Spekulation. Nicht mehr.
Spekulationitis bei Spiegel Online, Zeit.de und Bild.de
Ein paar Stunden später hat es der Vorfall in die überregionalen Medien geschafft. Und obwohl sie durch eine eigene Recherche ebenfalls noch nichts genaues wissen, springen sie auf den "Nazi-Zug" auf und ziehen ebenfalls ihre eigenen Rückschlüsse, warum es in Colmnitz so kommen musste.
Spiegel Online keult im ersten Beitrag zu diesem Thema gleich in der Einleitung folgenden Vergleich raus:
"Schon wieder Clausnitz? Der Ort, in dem Dorfbewohner im Februar einen ankommenden Reisebus mit Asylbewerbern angebrüllt haben, um deren Einzug in eine Unterkunft zu verhindern? Nein, diesmal ist es Colmnitz, hört sich ähnlich an, liegt auch ganz in der Nähe von Clausnitz - und pflegt offenbar ähnliche 'Brauchtümer'."
Ähh – ernsthaft? Man vergleicht wirklich den Vorfall in Clausnitz, bei dem Demonstranten einen Bus mit Asylbewerber blockierten, mit dem Festumzug in Colmnitz? Wo bitte ist der direkte Zusammenhang, was genau ist der Vergleich zwischen einer widerlichen Form des Protestes (Busblockade) und einem Festaufzug mit (verbotenen) Nazisymbolen?
Es wird noch schlimmer. Denn im Beitrag bedient man sich gleich bei den Spekulationen der Leipziger Internet Zeitung, die man zwar als "abenteuerlich" bezeichnet, die man den eigenen Lesern aber vorsorglich schon mal ins Hirn massiert:
"Eine Erklärung könnte vielleicht die einzige bekannte Persönlichkeit der rund 1400-Einwohner-Ortschaft sein: Horst Böhme. Er wurde 1909 in Colmnitz geboren und war Oberführer der Schutzstaffel im Dritten Reich sowie Befehlshaber der Sicherheitspolizei in Prag - eine vorbildliche Karriere in der Nazizeit. Vielleicht wollte der Heimatverein mit seinem provokanten Aufzug an den SS-Mann erinnern? Allein das wäre abenteuerlich genug."
Na klar. Vielleicht. Sicher doch. So sind die Sachsen schließlich, wissen wir doch alle. Sachsen, das Land, wo man gleich mal einen ganzen Dorfest-Festumzug dem einen im Ort geborenen SS-Mann widmet. Eine abenteuerliche (!) Spekulation, die bis auf einen Verweis auf einen Wikipedia-Eintrag jeglicher Grundlage entbehrt – und die mit Journalismus nix mehr zu tun hat.
Erst in einem späteren Beitrag auf Spiegel Online unter dem Titel "Hakenkreuze beim Dorfumzug: Heimatverein Colmnitz wehrt sich gegen Kritik" geht man deutlich sachlicher an das Thema ran. Der einfache Grund: Man hat endlich vor Ort jemand erreicht und selbst zum Thema recherchiert (s.u.).
Ist das heutzutage vielleicht einfach so, dass Online-Portale, auch wenn sie im Titel den Namen eines Qualitätsmediums tragen, schlicht als Boulevard- und Klatsch-Presse einzuordnen und entsprechend nicht ernst zu nehmen sind? Auch zeit.de berichtet, Titel des Beitrags: "Mit Hakenkreuz zum Dorffest".
Auch hier dieselbe Spekulationslust: Man zitiert ein bisschen Spiegel Online und die Leipziger Internet Zeitung – eigene Recherche: keine Zeit. Passend dazu findet sich unter dem Beitrag ein Video vom GSG9-Einsatz in Freital – das ist ja schließlich ebenfalls "um die Ecke".
Und auch auf Bild.de sieht es nicht anders aus – der erste Bild.de-Beitrag zum Thema schlägt in genau die gleiche Kerbe: Der SS-Führer bei Wikipedia, die Menschenfeinde bei Clausnitz und Freital – das passt aus der Ferne einfach zu gut zusammen.
Regionale Medien deutlich sachlicher
Ein Lob muss man in diesem Zusammenhang den regionalen Medien, insbesondere mdr.de (vgl. "Polizei ermittelt nach Festumzug in Colmnitz"), freiepresse.de (vgl. "Colmnitz: Hakenkreuz im Festumzug") und der "Sächsischen Zeitung" (Printausgabe Dresden 31.5., Seite 6) aussprechen, die über den Vorfall beim Dorffest differenziert und sachlich berichten, ohne ihn als "Lappalie" abzutun.
Statt sich an abenteuerlichen "Vielleichts" hochzuziehen, hat man selbst recherchiert und weitere Quellen wie etwa den Heimatverein oder den Bürgermeister herangezogen. Wie man deren Aussagen bewertet, darf der Leser hier zum Glück noch selbst entscheiden.
Etwas später am Tag, das eigene Klick-Säckle ist schon gut gefüllt, hat man sich dann bei Spiegel-Online auch mal an Recherche versucht – und sogar jemanden erreicht. Zitat aus dem SPON-Bericht vom Nachmittag:
"Der Vorsitzende zeigte sich am Telefon kurz angebunden. 'Wir sind schwer enttäuscht. Das ganze Dorf ist enttäuscht. Das ist doch Wahnsinn, was jetzt passiert', sagte er. 'Ihr macht alles kaputt.' Wen er damit meine? 'Euch, die Medien.' Dann legte er auf."
Man kann nur hoffen, dass der Mann unterscheiden kann: Zwischen Qualitätsmedien und Angeboten wie Spiegel-Online, Zeit.de und Bild.de.
Abschließend übrigens noch mal ein Verweis auf die ursprüngliche Quelle, den Fotografen Marcus Fischer. Er twittert wenig später, nachdem er das Hakenkreuz-Foto verbreitet hat:
Der Fairness halber muss man zu #colmnitz sagen dass es der einzige derartige Vorfall war und sich alle anderen doch viel Mühe gegeben haben
— Marcus Fischer (@MarcusFischer7) 29. Mai 2016
Juni 2, 2016
Vielen dank für diesen Sachlichen Bericht. Sehr schön und wahrheitsgemäß.
Juni 24, 2016
äh mal ernsthaft: wieso nicht beim nächsten Brand einer Flüchtlingsunterkunft, Ausschreitungen o.ä. einfach mal couragierter auftreten und den Neonazis nicht noch Gefolgschaft leisten ? vielleicht löst sich das sächsiche Imageproblem dann von selbst, ist bestimmt hilfreicher als Medienschelte zu betreiben (der Begriff Lügenpresse war mir vor montäglichen Aufzügen in der sächsischen Landeshauptstadt eigentlich auch nur aus der NS-Zeit bekannt, auch ein Beispiel wo Courage und Selbstkritik angebrachter wären als Medienschelte). Man kann nur hoffen, dass sich Sachsen mal damit befasst anstelle von sowas wie diesem Blog.
Juni 24, 2016
@Anon Dass man das eine tut ohne das andere zu lassen, passt nicht in Ihren Horizont, oder?