Wer mit Fernsehleuten zu tun hat, weiß: Das zentrale Kriterium im TV-Segment sind die Einschaltquoten. Manchmal hat man als externer Beobachter sogar das Gefühl, die Quoten sind das einzige Kriterium, das zählt. Gleichzeitig werfen Kritiker den öffentlich-rechtlichen Anstalten vor, nicht innovativ genug zu sein. Könnte das daran liegen, dass sich die Sende-Verantwortlichen zu sehr auf die Einschaltquoten konzentrieren und damit bestimmte Zielgruppen von vornherein ausschließen - zum Beispiel die jungen Zuschauer? Aber kann man den öffentlich-rechtlichen Auftrag überhaupt anders als durch die Einschaltquoten bewerten?
Der Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Lutz Hagen vom Institut für Kommunikationswissenschaft der TU Dresden plädiert im Interview dafür, die Quoten nicht als ausschließliches Kriterium zu verwenden, sondern in Relation zu setzen. Und benennt Kritierien für die Messung von öffentlich-rechtlicher Qualität.
Flurfunk Dresden: Gibt es für Fernsehmacher eine andere Möglichkeit als die Einschaltquoten, um Qualität im Fernsehen zu messen?
Prof. Lutz Hagen: Selbstverständlich! Qualitätskriterien sind ein zentraler Bestandteil des journalistischen Berufsethos und seiner Ausbildung. So sollte ein gutes Stück Informationsjournalismus, etwa eine Nachricht, vor allem wahr sein, aber eben auch relevant und verständlich. Auch für die eher künstlerischen Metiers des Fernsehens gibt es Kriterien. Ein Unterhaltungsfilm sollte unter anderem die Merkmale der guten Geschichte aufweisen. Solche Kriterien sind noch relativ allgemein, können aber auf genauere Punkte heruntergebrochen und sogar gemesessen werden. Sie machen sich an Inhalten fest und sind nur indirekt mit der Quote verbunden.
Ein blühender Zweig der Kommunikationswissenschaft bringt ständig Studien hervor, die mit Hilfe von Inhaltsanalysen die Qualität von Medieninhalten bewerten. Solche Bewertungen werde auch in der Praxis zunehmend wichtig. Zum Beispiel beim Drei-Stufen-Test für neue Angebote des öffentlich-rechtlichen Rundfunks oder beim neuerdings zunehmend qualitativ orientierten internen Controlling von öffentlich-rechtlichen und privaten Anbietern. Im Ausland ist man zum Teil schon weiter. Die individuelle und gesellschaftliche Nützlichkeit und Angemessenheit von Angeboten der BBC, der Mutter aller Öffentlich-Rechtlichen, wird seit Jahren durch den sogenannten Public Value Test ermittelt. Auch der Grimme-Preises und ähnliche Wettbewerbe erfordern bestimmte Qualitätskriterien als Grundlage.
Flurfunk Dresden: Kann man mithilfe von Quoten feststellen, ob ein öffentlich-rechtlicher Fernsehsender seinen gesetzlichen Auftrag erfüllt?
Prof. Lutz Hagen: Die Quoten geben einzig darüber Auskunft, wieviele Personen von einem bestimmten Angebot erreicht werden. Damit wird das Ausmaß der Nachfrage nach Fernsehangeboten gemessen. Insofern sind Quoten eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die erwünschten Wirkungen des Fernsehens, die die öffentliche Aufgabe umfasst. Und die Nachfrage kann man in der Tat als Indikator für die Qualitätswahrnehmung aus Zuschauersicht nehmen. Diese Sicht kann aber sehr wenig damit zu tun haben, wie ein Angebot im Hinblick auf die Kriterien der öffentlichen Informations- und Bildungsaufgabe oder im Licht kultureller Ansprüche zu bewerten ist.
Außerdem sollten Quoten stets relativ zur angepeilten Zielgruppe beurteilt werden - und die kann klein aber wertvoll sein. Ein gutes Beispiel sind meiner Meinung nach die Angebote von MDR Sputnik, die das volle Spektrum der Crossmedialität kreativ ausnutzen und z.B. ein eigenes Web-TV mit Forenfunktionen verknüpfen. Damit richtet man sich im regionalen Bereich an eine sehr junge Gruppe mit innovativer Mediennutzung. Sie ist nicht groß, aber wenn man sie jetzt nicht erreicht, dann wird sie für die Öffentlich-Rechtlichen vielleicht für immer verloren sein. Innerhalb dieser speziellen Zielgruppe ist es für MDR-Sputnik wiederum wichtig, eine möglichst hohe Reichweite zu generieren.
Ohne Quoten geht es also nicht, aber es kommt sehr darauf an, wie man sie einsetzt und man muss sie in den Kontext zusätzlicher Information stellen - etwa aus Qualitätsanalysen.
Flurfunk Dresden: Ist die Erfüllung des öffentlich-rechtlichen Auftrags, wie er durch die Rundfunkstaatsverträge festgeschrieben und durch die Rechtsprechung definiert ist, überhaupt messbar?
Prof. Lutz Hagen: Das Medienrecht definiert verschiedene, unterschiedlich präzise Oberkritererien. Bei manchen hat man wenig Mühe, klare Unterkriterien zu formulieren und zu messen. So lassen sich bestimmte Verstöße gegen das das Trennungsgebot von Werbung und Programm leicht ermitteln oder die regionale Vielfalt der Berichterstattung des MDR kann leicht nach Regionen anteilig darstgestellt werden.
Anderes ist schwieriger, etwa wenn es um verschiedene Formen kultureller Vielfalt und Relevanz geht. Die Probleme liegen aber weniger darin, bestimmte Indikatoren zu messen - etwa die Präsenz unterschiedlicher kultureller Strömungen oder gesellschaftlicher Gruppen. Die Probleme liegen eher darin, dass die Unterkriterien strittig sind, dass man also schwer sagen kann, in genau welchem Umfang die Berichterstattung über bestimmte Gruppen angebracht wäre. Die Lösung liegt darin, die Dinge regelmässig zu analysieren und somit transparent zu machen, welches Bild der Realität im Fernsehen gezeichnet wird. Das ist die beste Grundlage für Diskussionen über Qualität und für die Weiterentwicklung von Normen.
Flurfunk Dresden: Welche Auswirkungen auf das Programm hat die starke Konzentration auf die Arbeit der Quoten?
Prof. Lutz Hagen: Wer nur auf die Gesamtreichweite guckt, ohne andere Qualtätskriterien zu beachten, der landet schnell bei Helmut Thoma's Credo "Im Seichten kann man nicht ertrinken".* Doch Fernsehen bildet und verändert damit unsere Präferenzen. Fernsehen hat wie kein anderes Medium gesellschaftliches Innovations- und Aufklärungspotential. Beides wird in den Hintergrund treten, wenn man nicht anderes im Sinn hat, als die Gesamtreichweite zu vergrößern.
Flurfunk Dresden: Widerspricht die Konzentration auf die Quoten nicht dem Auftrag der Vielfalt?
Prof. Lutz Hagen: Wenn damit die Maximierung der gesamten Einschaltquote gemeint ist, gibt est tatsächlich einen Zielkonflikt. Wer mit effizienten Mitteln Markführer werden will, der bedient meist nur den Geschmack der größten Gruppen und geht den Weg des geringsten Wiederstands - Mainstreaming nennt man das. Orientierung an Quoten kann aber durchaus auch so aussehen, dass man auf spezielle Gruppen zielt, auch auf mehrere, und dort eine bestimmte Reichweite anstrebt. Das hingegen ist ziemlich kompatibel mit verschiedenen Formen programmlicher Vielfalt (siehe meine Antwort auf die zweite Frage).
Flurfunk Dresden: Vielen Dank für das Interview!
*Selbstzitat auf http://helmutthoma.de/show.htm
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