Im Januar 2015 startete Jan Pötzscher sein Blog Bunte Nachbarschaft (bunte-nachbarschaft.de).
Einziges Thema: Die Asylbewerber-Unterbringung in der direkten Nachbarschaft seines Hauses. Zu diesem Zeitpunkt war die noch nicht bezogene Unterbringung Gesprächsthema Nr. 1 im Dorf – mit allen emotionalen Schattierungen.
Von Vorteil beim Start des Projekts war sicherlich, dass Pötzscher schon Erfahrungen als Blogger hatte. So bloggt er unter newmediapassion.com und ist häufig als Dozent und Speaker zu den Themen SEO und Social Media unterwegs. Der Familenvater arbeitet ansonsten als Head of Account Management beim Spezialisten für Smart Relevance Optimization (SRO) semcona.
Im Interview mit FLURFUNK zieht der Papa von Zwillingen, der gern auch mal als DJ auf Hochzeiten und Festen unterwegs ist, eine persönliche Bilanz zu seinem Nachbarschaftsblog. Wie reagierten die Nachbarn? Was waren die Höhe- und Tiefpunkte? Welche Erfahrungen hat er gemacht?
Jan Pötzscher: "Die Behörden kommunizieren nicht transparent genug."
FLURFUNK: Du hast am 17. Januar 2015 dein Blog "Bunte Nachbarschaft" gestartet und darin über Eure direkte Nachbarschaft zu einem Asylbewerberheim geschrieben. Warum ausgerechnet ein Blog?
Jan Pötzscher: Ich habe vorher schon einige Jahre gebloggt, unter anderem auf meinem Blog über SEO und Social Media. Daher war es für mich keine Frage, dass ich meine Gedanken und Erlebnisse über ein Blog veröffentliche. Zudem halte ich Blogs nach wie vor für die authentischste und ehrlichste Form der Kommunikation, eben weil sie Meinungen des Bloggers abbilden und diese meist recht ungefiltert.
FLURFUNK: Hast Du das Projekt spontan gegründet oder gab es ein Konzept?
Pötzscher: Auf die Idee bin ich gekommen, weil im Angesicht der Flüchtlingsthematik dubiose Informationsseiten und wilde Gerüchte nur so aus dem Boden geschossen sind. Man konnte Wahrheit und Lüge kaum noch unterscheiden, ganz im Gegenteil: Je unglaublicher die Story, desto weiter hat sie sich verbreitet. Es hat mich aufgeregt, wenn ich erleben musste, wenn m.E. nach eigentlich vernünftige Menschen Rattenfängern und Halbwahrheiten auf den Leim gegangen sind. Da musste ich reagieren und für mich stand von Anfang an fest: Ich gebe nur das wieder, was ich selber erlebt oder von seriösen und verlässlichen Quellen erfahren habe. Ich beschönige nichts, ich verschweige nichts. Das war mein ganzes Konzept.
"Die Situation war schon extrem aufgeladen."
FLURFUNK: Eurer Ort Häslich war mehrfach – nicht immer unbedingt positiv – in den Schlagzeilen. Wie haben denn Deine Nachbarn auf das Blog reagiert?
Pötzscher: Unterschiedlich – anfangs gab es Skepsis. Ich wurde auch schon als "Blockwart" bezeichnet (allerdings auf Facebook). Auch mein Artikel zum Bericht der FAZ stieß nicht unbedingt auf Gegenliebe, weil einige dachten, ich falle ihnen in den Rücken. Ich habe beispielsweise auch meinen damaligen Chef gefragt, ob das für ihn okay wäre, dass ich diesen Blog mache. Denn die Situation war schon extrem aufgeladen und jeder falsche Zungenschlag konnte einem massiv auf die Füße fallen. Daher war mir beispielsweise auch sehr wichtig, dass meine Familie dahintersteht. Aber nachdem die Nachbarn gesehen habe, wie ich schreibe und was ich schreibe, hat sich die Skepsis recht schnell in Akzeptanz und Bewunderung gewandelt. Für viele im Dorf war mein Blog die erste Anlaufstelle für verlässliche Informationen, eben weil ich keine Gerüchte wiedergegeben habe, sondern nur meine Erfahrungen und Eindrücke. Ich habe viel mit dem Landratsamt, mit der Pressestelle und mit der Polizei, aber auch mit den Verantwortlichen des Heimes kommuniziert, um Informationen zu bekommen oder Gerüchte bestätigen zu lassen bzw. zu wiederlegen, bevor ich darüber blogge.
FLURFUNK: Im Blog ist zu lesen, dass Du von einigen Institutionen wie ein Journalist behandelt worden bist. Hast Du die Erfahrung auch mit anderen Behörden und Institutionen gemacht? Oder gab es auch gegenteilige Erfahrungen?
Pötzscher: Nun, es war schon witzig, als ich vom Landratsamt Bautzen dann auf einmal die Antwort bekam, dass ich mich doch bitte an die Pressestelle wenden solle, da ich als Blogger ja journalistisch tätig bin. Bis zu diesem Zeitpunkt hieß es immer, dass man sich als Anwohner an die zuständige Ausländerbehörde wenden solle. Ich hatte auch das Gefühl, dass Informationen dann spärlicher flossen, weil das LRA gemerkt hat, dass ihre Emails dann postwenden Eingang in einen Beitrag gefunden haben. Transparenz war und ist in Bezug auf das Thema Flüchtlinge leider nach wie vor ein riesiges Problem. Die Behörden kommunizieren nicht transparent genug. Vieles wird hinter verschlossenen Türen behandelt und beschlossen und die betroffenen Anwohner und auch Bürgermeister werden vor vollendete Tatsachen gestellt. Das halte ich für grundfalsch und gefährlich, denn so wird die Angst geschürt und werden Vorbehalte bestärkt.
FLURFUNK: Was war aus Deiner Sicht Dein Höhepunkt während des Blogbetriebs?
Pötzscher: Zu einen waren das die Interviewanfragen vom MDR und von RTL. Da hatte ich mit meinem kleinen Projekt die Aufmerksamkeit der Medienanstalten geweckt. Auch wenn ich alle Anfragen dahingehend abgelehnt habe, habe ich mich da schon ein wenig geschmeichelt gefühlt. Der Höhepunkt bezüglich der Akzeptanz des Blogs war sicherlich, als mich Anwohner auf einem Dorffest direkt darauf angesprochen und mich dafür gelobt haben. Das hat mich unglaublich bestärkt. Leute die mich selbst nicht kannten, kannten aber mein Blog und haben mich angesprochen. Selbst der Leiter des Heimes hat sich mehrfach mir und anderen gegenüber sehr positiv über den Blog geäußert und die Geschenke zu Weihnachten haben mir gezeigt, dass ihm das, was ich geschrieben habe, offensichtlich sehr gefallen hat.
"Eine Enttäuschung war die Bezeichnung als Blockwart. Hier hat jemand gar nicht verstanden, was ich mache und was das Ziel des Blogs ist."
FLURFUNK: Und gab es auch Tiefpunkte?
Pötzscher: Ja die gab es auch, auch wenn es zum Glück nicht viele und keine so einschneidenden waren. Eine Enttäuschung war die Bezeichnung als Blockwart – ein Begriff, der aus der Nazizeit stammt und einen "Überwacher", manchmal auch Spitzel, meint. Hier hat jemand gar nicht verstanden, was ich mache und was das Ziel des Blogs ist. Der zweite Tiefpunkt, wenn man es so nennen will, war die Auseinandersetzung mit Nachbarn aufgrund meines Artikel zum FAZ-Beitrag, in dem ich einiges klarzustellen versucht habe. Manche konnten aber mit meiner Offenheit nicht so recht umgehen und fühlten sich angegriffen. Das hat sich dann aber wieder gelegt und mittlerweile können wir wieder sehr gut miteinander umgehen. Kommunikation und miteinander reden hilft dann eben doch ;-)
FLURFUNK: Deine Schreibweise wirkt sehr vorsichtig bis bewusst wertfrei – gleichzeitig trägt Dein Blog das Wörtchen "Bunte" im Titel. Bist Du mit einer bestimmten politischen Motivation an das Projekt gegangen?
Pötzscher: Nein. Es ging mir absolut nicht um die Politik, sondern um weitestgehend neutrale und verlässliche Informationen und einen möglichst wertfreien Einblick in das Zusammenleben mit Flüchtlingen Haus an Haus. Alles, was ich damals gelesen habe und teilweise auch noch heute im Netz lese, ist voll von subjektiven Meinungen, Stimmungsmache, Halbwahrheiten oder offensichtlichen Lügen. Dem wollte ich mich ein Stück weit entgegenstellen. Mit dem Titel "Bunte Nachbarschaft" wollte ich schon eine gewisse offene Grundhaltung meinerseits zu dem Thema herausstellen. Denn das war auch schon vor dem Blog mein Ansinnen: Offen und möglich unvoreingenommen bleiben, ganz gleich, wie sich die Stimmung im Dorf und im Netz entwickelt.
FLURFUNK: Gab es Anfeindungen?
Pötzscher: Zum Glück nicht, auch wenn ich damit gerechnet habe. Schließlich hat sich die NPD doch recht häufig bei uns im Dorf sehen lassen und mein Blog muss vor allem auch den Organisatoren der Samstags-Umzüge ein Dorn im Auge gewesen sein. Aber ich bin noch nie ein Duckmäuser gewesen und hätte mich da schon zu wehren gewusst.
"Viele haben durch meinen Blog erfahren, dass alles gar nicht so schlimm ist, wie anfangs befürchtet."
FLURFUNK: Hat sich Deine Einstellung während des Bloggens zum Thema geändert?
Pötzscher: Ich war anfangs nicht frei von Sorge und auch Angst, denn die Berichte über andere Flüchtlingsheime und auch Übergriffe auf Frauen haben mich und meine Familie natürlich beschäftigt. Auch wenn wir die Zusicherung des Landrates und der Ausländerbehörde hatten, dass nur Familien einziehen werden, hatten wir durchaus Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Verantwortlichen. Aber nachdem die Versprechungen eingehalten wurden und ich das erste Mal auch Kontakt zu den Flüchtlingen hatte, hat sich die Skepsis verflüchtigt. Meine Grundeinstellung zur Flüchtlingsthematik an sich hat sich nicht geändert, im Gegenteil: Wenn man die Kinder sieht, die alles verloren haben und hier in unserem Land einfach nur hoffen, etwas Ruhe zu finden, dann weiß man umso mehr, dass wir verpflichtet sind, zu helfen.
FLURFUNK: Welchen Einfluss hatte das Blog auf die Stimmung im Ort?
Pötzscher: Ich glaube schon, dass ich etwas dazu beigetragen habe, dass die Menschen über ihre anfänglich aggressive und negative Grundeinstellung zu Flüchtlingen nachgedacht haben. Viele haben durch meinen Blog erfahren, dass alles gar nicht so schlimm ist, wie anfangs befürchtet. Und ich glaube auch, dass einige dankbar waren, dass ich ein wenig geholfen habe, dass zwischenzeitlich sehr negative Bild von Häslich etwas abzuschwächen, was in den Medien teilweise gezeichnet wurde.
FLURFUNK: Wenn jemand ein vergleichbares Projekt überlegt – was würdest Du ihm mit auf dem Weg geben?
Pötzscher: Das Einrichten des Blogs war recht einfach – WordPress ist da wirklich perfekt für geeignet. Ich würde ihm raten, sich nicht mit tollen Designs oder umfangreichen Konzepten aufzuhalten, sondern einfach anfangen zu schreiben. Wer mit dem Herzen schreibt und sich auch nicht beeinflussen lässt, der kann nichts falsch machen. Wer wirklich nur eigene Eindrücke beschreibt und keine Gerüchte weiterträgt, der macht sich auch nicht angreifbar. Zwischenzeitlich wurde es dann schon etwas aufwändiger, weil ich gemerkt habe, dass mein Blog gelesen wird und das nicht wenig. Der steigenden Erwartungshaltung muss man dann auch gerecht werden, was zeitlich nicht immer einfach war. Schließlich bin ich Familienvater und Arbeitnehmer und kann nicht den ganzen Tag zu Hause sitzen und mich um das Heim kümmern. Man sollte auch nicht vergessen, sein Netzwerk mit einzubeziehen, wenn man gelesen werden will. Ich habe die Beiträge zum Beispiel mmer auf Facebook geteilt und manchmal auch auf XING. Das hat schlussendlich die Reichweite deutlich erhöht.
FLURFUNK: Vielen Dank für das Interview.
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