“Der menschenverachtende Schnapsburger” – Möglichkeiten als Dresdener Bürgerjournalist

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Mayonnaise im Haar, Pommes hinter den Ohren und einen Bürger im Nacken. "Haben Sie denn mal vom Schnapsburger probiert?", fragt die Frau von der "BILD"-Zeitung. Welches Fast-Food-Produkt meint sie denn damit? "Schnapsburger", erfahren wir, solle eventuell der Titel für das von uns eingereichte Foto werden.

Vor circa fünf Jahren hat die "BILD"-Zeitung ein neues "Tool" ins Leben gerufen: die 1414-Leserreporter. Hierbei handelt es sich um eine Funktion, die es dem Leser ermöglicht, sich selbst aktiv daran zu beteiligen, der Zeitung Inspiration und Ideen zu liefern. Indem die Lesereporter eigene Fotos per MMS an die Nummer 1414 schicken, können aus spontanen Schnappschüssen außergewöhnliche Geschichten werden.

Um herauszufinden, wie spontan und kreativ Lesereporter sein müssen, um eines ihrer Fotos schlussendlich abgedruckt in einer Zeitung zu sehen, haben wir, drei TU-Studentinnen für Medienforschung/Medienpraxis, einen Selbstversuch gestartet. Vier Wochen lang waren wir bürgerjournalistisch in Dresden tätig und auf der Jagd nach spektakulären Bildern.

Neben der lokalen Ausgabe der "BILD"-Zeitung bieten auch die "Sächsische Zeitung" und Dresden Fernsehen leser– bzw. zuschauereinbindende Funktionen an. Die "SZ" bezeichnet diese Funktion als "SZ-Augenzeugen". Leser haben hier ebenfalls die Möglichkeit, eigene Fotos oder Hinweise auf Meldungen an die Redaktion zu schicken.

Der Anruf, den wir rein interessehalber bei der "SZ" tätigen, bringt jedoch wenig neue Erkenntnis. Die Dame am anderen Ende der Leitung kennt sich mit der genauen Funktion und einer eventuellen Honorierung eingesandter Ideen nicht aus. So erhalten wir auch keinerlei Reaktion auf unser Foto von der weihnachtlichen Dresdener Frauenkirche.

Bei der "BILD"-Zeitung sieht das schon ganz anders aus. 250 Euro verspricht sie ihren Lesereportern, wenn das Foto deutschlandweit gedruckt wird, 150 Euro gibt es für Mehrfachdrucke in Regionalzeitungen und 50 Euro für eine regionale Ausgabenerscheinung.

Das Honorar soll allerdings wirklich nur ein Anreiz sein. "Lesereporter werden keinesfalls höher bezahlt, als festangestellte Fotografen", versichert uns Christian Fischer, stellvertretender Redaktionsleiter der "BILD"-Dresden.

Das soll es uns wert sein. Eine Kommilitonin, die mit Kopfhörern und Sudoku in der Statistikvorlesung sitzt, verschmäht die "BILD"-Zeitung jedoch. 500 Menschen, die an einem Club anstehen, der sonst eher unbeliebt zu sein scheint, sind wahrscheinlich auch uninteressant. Und bei dem Nikolausflashmob auf dem Neumarkt waren wir uns unsicher.

Die ersten Zweifel und Fragen kommen auf. Wie sieht das eigentlich aus mit Datenschutz? Dürfen wir einfach so jeden fotografieren und der Veröffentlichung des Fotos zustimmen, ohne dass die zu sehenden Personen ihr Einverständnis gegeben haben?

Und wir haben gelernt: Wenn bei öffentlichen Veranstaltungen mehr als drei Gesichter zu erkennen sind, dann darf das Foto veröffentlicht werden, auch ohne Zustimmung der Abgebildeten.

Nachts um drei bei McDonalds. Mit Verpackungsmüll und Essensresten versehen, sitzt dort verlassen ein junger Mann an einem Tisch. Er schnarcht. Schaulustige essen ihm Pommes Frites vom Kopf und fotografieren sich dabei. Ist das was für die "BILD"-Zeitung? Oder fürs Dresden-Fernsehen? Einen Versuch ist es wert.

130.000 Fotos haben im letzten Jahr die 1414-Redaktion in Berlin erreicht. Etwa 2.000 davon wurden veröffentlicht. Jeden Morgen hat Christian Fischer das aktuelle "1414-Angebot des Tages" für die lokale Ausgabe der "BILD"-Zeitung auf seinem Schreibtisch liegen. "In Dresden sind das ziemlich viele, weil die Leser hier verstanden haben: 'Die reden nicht nur, die drucken auch.'"

Beim Dresden Fernsehen gehen ebenfalls täglich neue Meldungen von Zuschauern ein. Anders als bei der 1414-Aktion der Bild kann der Bürger seine Nachricht telefonisch, per E-Mail oder MMS melden. Zusätzlich wird der Service "Ihre Nachricht" angeboten. Ein Onlineangebot, bei dem die Nachrichten dann im Internet unter der Rubrik "Zuschauernachricht" zu finden sind. Anja Herrmann, die Studioleiterin von Dresden Fernsehen, sagt dazu aber, dass die Kommentarfunktion von den Bürgern mehr angenommen wird. "Nicht jeder fühlt sich als Journalist. Die Zuschauer haben Respekt vor dem Journalisten. Sie schicken lieber eine Nachricht und wir sollen etwas daraus machen." Die Studioleiterin betont aber auch, dass sie den Wert der Bürgerarbeit schätzt. Tipps von Zuschauern sind immer wieder gerne gesehen.

Bei "BILD"-Dresden ist der stellvertretende Redaktionsleiter derjenige, der die eingehenden Fotos sichtet und entscheidet, welches von ihnen Platz im Blatt findet. "Ein richtig gutes Foto ist eines, bei dem ich bereit bin, weiter davon zu erzählen. Ich muss es so außergewöhnlich interessant finden, dass ich meinen Freunden davon berichte", sagt Fischer. Anfangs gab es Kritik, die "BILD"-Zeitung rufe zur Ausbildung von "Volkspaparazzi" auf. "Das ist Quatsch", erklärt er, "die meisten unserer Leserreporter sind einfach stolz auf ihr Foto und freuen sich somit ein Teil unserer Zeitung zu sein."

Die Leserreporter seien eine wirkliche Bereicherung für seine Zeitung. Oft lieferten sie Ideen und Informationen für neue Geschichten, da sie noch vor den Profi-Reportern vor Ort sind. Arbeit für ausgebildete Journalisten falle so jedoch nicht weg. Im Gegenteil: Mit der 1414-Aktion ist sogar eine neue Redaktion entstanden. Denn die Recherche zu den Stories übernehmen immer noch die Profis. "Bürgerjournalismus" ist für Fischer deshalb auch ein Unwort, denn er selbst fühlt und sieht sich sowohl als Bürger als auch als Journalist. "Leser-Reporter halte ich da für den besser gewählten Begriff", sagt der "BILD"-Journalist.

Obwohl das Bild auf uns selbst inszeniert wirkt, klingelt gleich am nächsten Tag das Telefon. Unterdrückte Nummer. "Ja, hallo?!" Die Dame am Apparat stellt sich als "BILD"-Leser-Redakteurin vor. Dem Chef gefalle unser Foto. Wir schicken noch ein Foto aus dem McDonalds. Auch die Kontodaten sowie das Einverständnis zur Abtretung der Fotorechte möchte der Axel-Springer-Verlag haben. Diesmal sind wir also einen Schritt weiter. Und von nun an gibt es jeden Morgen die "BILD" vom Kiosk. Nach fünf Ausgaben verfassen wir nochmal eine Mail und schreiben dazu, dass es sich wirklich um kein gestelltes Foto handelt. "Den Vorfall hat mir McDonalds bereits bestätigt", schreibt die Frau von der "BILD"-Zeitung in Ihrer Antwort-Mail. Wann und ob unser Foto noch gedruckt wird, könne Sie uns leider nicht mitteilen. Sie würde unser Anliegen aber weiterleiten.

Die Einbindung des Lesers ist eine Bereicherung. Jedoch werden Lesereporter nie journalistische Arbeit ersetzen. Obwohl die Leser oft Inspiration liefern, bleibt das journalistische Handwerk der Recherche weiter erhalten. Lesereporter sind nun einmal keine Profi-Journalisten. Deshalb glaubt auch Christian Fischer an die Zukunft der Zeitung. Außerdem habe sie im Gegensatz zum Internet ein Anfang und ein Ende. Der Leser bekomme so das Gefühl, über die wichtigsten Ereignisse für den Tag informiert zu sein. Zudem stellt der Redakteur in Aussicht: "Wenn wir uns in Dresden online weiterentwickeln, könnte es künftig auch bei uns Stadtteilreporter wie bei BILD Leipzig geben" (vgl. dazu Flurfunk Dresden vom 6.4.2011).

Und was ist nun aus unserem Foto geworden?

"Ich hatte das Foto auf dem Tisch, aber ich wollte es nicht drucken", verrät uns der stellvertretende Redaktionsleiter. "Ich möchte nicht, dass Leute das nachmachen. Der Mann tat mir leid und ich fand es menschenverachtend."

Autoren: Laura Thiele, Nina Seel und Antonia Frenzel, Februar 2012

Dieser Text entstand im Wintersemester 2011/12 im Rahmen des Seminars “Einführung in den Journalismus” am Institut für Kommunikationswissenschaft der TU Dresden. Dozent ist Peter Stawowy, Betreiber von Flurfunk Dresden. Der Text war Teil der Seminarnote.

8 Kommentare
  • stefanolix
    Mai 29, 2012

    Zum »SZ-Augenzeugen«: Ich bin nicht ganz sicher, ob es diese Möglichkeit der kostenlosen Verwertung von Leserfotos überhaupt noch gibt. Ich habe das schon eine Weile nicht mehr (bewusst) in der Zeitung gelesen. An eine Einsendung kann ich mich erinnern: Das Bild eines »verkleideten« Testfahrzeugs, das noch gar nicht auf dem Markt war (»Erlkönig«). Früher wurde — dem Vernehmen nach — zuweilen etwas unter den Einsendern verlost.

    Meine ganz persönliche und bewusst zurückhaltend vorgetragene Meinung zum kostenlosen Abdruck: Ich denke, dass sich eine Zeitung nicht als besonders glaubwürdig darstellt, wenn sie auf ihren Seiten nicht honorierte fremde Arbeit verwendet, wo doch eigentlich die Arbeit der Journalistinnen und Journalisten hingehört.

    Man müsste mal herausfinden: Wie viel Geld bekommt ein professioneller Fotograf von der BILD für den deutschlandweiten Abdruck eines durchschnittlichen Fotos?

  • Martin
    Mai 29, 2012

    "Wie viel Geld bekommt ein professioneller Fotograf von der BILD für den deutschlandweiten Abdruck eines durchschnittlichen Fotos?"

    Eine monatliche Pauschale.

  • Hendrik
    Mai 30, 2012

    Irgendwie eine abstoßende Geschichte. Konnte mich beim besten Willen und trotz studentischen Engagements nicht motivieren, ein "LIKE" zu vergeben.

    Trotzdem oder gerade deshalb bin ich der festen Überzeugung, dass die Lokalpresse in einem entscheidenden Prozess ist. Entweder sie verändert sich oder sie stirbt mittelfristig.

    Eine wesentliche Veränderung bedeutet: Bezahlte Öffnung zu bloggern und Leserreportern, Wandlung des Berufes des Journalisten vom Schreiber und Recherchierenden auch hin zum Sammler, Veröffentlichungs-Entscheider und Moderator von Informationen.

    Weg von Presseagenturen hin zu Bürgeragenturen. Lokale Inhalte sind der Schlüssel zum Erfolg. Dass die Diamanten unter den Bloggern noch nicht gehoben wurden, ist mir UNBEGREIFLICH!

    Und das diese Gedanken nicht so fern liegen, zeigt die Resonanz auf entsprechende Ideen von einigen Internet-Aktivisten ;) Viele Blogbetreiber scheinen dem aufgeschlossen...

  • Hendrik
    Mai 30, 2012

    PS:
    @Transparenz, weil ich ja mal Bundeskanzler werden will. ;)

    Ich gebe hiermit öffentlich zu, bereits zweimal von Medienvertretern auf Fotos angesprochen worden zu sein, die ich ARGLOS auf FB veröffentlicht habe.

    Für beide Fotos (ohne Personen) habe ich anschließend aufgrund der Veröffentlichung Geld bekommen. Weitere Details veröffentliche ich scheibchenweise oder nach meinem Rücktritt als Bundeskanzler.

  • stefanolix
    Mai 30, 2012

    @Martin: Nach meinem Kenntnisstand erhalten freiberufliche Journalisten für durchschnittliche Fotos in der BILD zwischen 150 und 250 Euro. Nur bei außergewöhnlichen Fotos ist das Honorar Verhandlungssache.

    @Autorinnen des Beitrags: Die Konstruktion »regionale Ausgabenerscheinung« kann man durch »das Erscheinen in einer Regionalausgabe« ersetzen. Das klingt besser. Falls Ihr allerdings später im sächsischen Staatsdienst arbeiten wollt, dann spart auf keinen Fall mit Nominalkonstruktionen ;-)

  • stefanolix
    Mai 30, 2012

    Zur Veröffentlichung der Bilder von Personen würde ich gern auf die Rechtsquelle

    http://www.gesetze-im-internet.de/kunsturhg/__23.html

    verweisen. Bitte beide Absätze beachten.

    Das Foto des jungen Mannes bei McDonalds ist schon ein Grenzfall, weil er möglicherweise als Person erkannt werden kann. Es war also richtig, dass die BILD das Foto nicht gedruckt hat.

    Gesetzt den Fall, dass man in dieser Situation eine Menschengruppe mit mehreren erkennbaren Gesichtern fotografiert hätte, die ihn gerade ärgert, wäre es immer noch keine öffentliche Veranstaltung gewesen. Außerdem wäre ein berechtigtes Interesse des/der Abgebildeten verletzt worden.

    Übrigens: Niemand kann uns ganz genau sagen, ob die Person bei McDonalds wirklich betrunken war. Es kann sein, dass er einen Schwächeanfall oder andere gesundheitliche Probleme gehabt hat.

    Auch auf einer öffentlichen Veranstaltung, wie z.B. dem OpenAir-Konzert des Dixieland-Festivals, ist der Fotograf gehalten, seine Motive vor der Veröffentlichung so zu wählen, dass niemand in seinen Persönlichkeitsrechten verletzt wird. Ich habe dort schon intensiv fotografiert. Ich weiß, wovon ich rede ;-)

    Also: In rechtlichen Fragen bitte immer ganz genau überlegen, was man in einem Medium veröffentlicht. Am besten ist der Verweis auf eine Rechtsquelle, auf eine einschlägige seriöse Website oder auf ein gutes Buch.

    Das Zitat »Wenn bei öffentlichen Veranstaltungen mehr als drei Gesichter zu erkennen sind, dann darf das Foto veröffentlicht werden, auch ohne Zustimmung der Abgebildeten.« passt vielleicht noch in eine Seminar-Arbeit, sollte aber bitte nicht so in der Zeitung erscheinen.

  • krusty20
    Mai 30, 2012

    Das einzig Tröstliche bei dieser wirklich abstoßenden Geschichte ist, dass diese drei Studentinnen mit all ihrer Unbedarftheit, Respektlosigkeit und der völligen Absenz von Empathie und Ethik hier genauso vorführt werden, wie sie den auf dem Foto abgebildeten Mann vorführen wollten. Und dass ausgerechnet ein BILD-Redaktionsleiter ihnen eine Nachhilfestunde in sozialem Miteinander geben muss, ist das Sahnehäubchen für diesen völlig misslungenen Versuch von was auch immer.

  • Christian Spließ
    Juni 7, 2012

    Mir behagt diese "Journalisten sind die besseren Rechercheure"-Attitüde nicht - die Wahrheit liegt wie des öfteren in der Mitte. Es gibt Pressetermine, wo nur der Photograph hingeschickt wird und anschließend erscheint dann halt das Photo mit einigen Unterschriften, die darauf beruhen was man dem Photographen an Infos mitgegeben hat.
    Ebenfalls gibt es Artikel bei denen man sich ernsthaft fragt, ob der Journalist vor Ort war oder ob er nur die Pressemitteilungen neu vertextete ohne zu recherchieren.
    Daneben gibt es Blogger, die durchaus mit Herz und Hand und Handwerkszeug imstande sind lokale - und genau das scheint den Zeitungen seltsamerweise nicht mehr wichtig zu sein, das Lokale - gut recherchierte Geschichten zu schreiben.
    Was ich mich immer frage: Warum muss man eigentlich immer diesen "Blogger versus Journalisten"-Gegensatz neu auflegen? Seit 2001 erlebe ich, dass man das immer wieder mal hervorholt - und meistens muss ich leider schreiben sind es Journalisten, die damit anfangen. Warum auch immer. Dass Zeitungen lange Zeit meinten, die digitale Revolution ginge spurlos an ihnen vorüber ohne neue innovative Konzepte zu entwickeln - und eine PDF-Ausgabe auf dem iPad ist nicht innovativ - ist ja nun nicht die Schuld der Blogger...
    Ad Astra

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